Berlin, 27. September 2001:

Ein ganz normales Abo-Konzert

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Berlin, 27/09/2001
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. September


Freunde, diese Töne
Abbados hinreißende Tat

Alle reden über Simon Rattle, alle freuen sich auf ihn. Sein Vertrag als Chef der Berliner Philharmoniker ist, nach langem Tauziehen Marke Berlin, unterschrieben; nicht auf Lebenszeit, aber doch für satte zehn Jahre. Sein künftiges philharmonisches Heim eine wunderbare Stiftung geworden mit vielen erklecklichen Freiheiten für ihn, für seine Musiker. Seine Plattenfirma ihm treu ergeben, er ihr. Und ab der nächsten Woche ist er wieder in der Stadt, als feuriger Festwochen-Gast. Mit den Wiener Philharmonikern führt Rattle alle Beethoven-Symphonien auf. Berlin glaubt damit etwas Einzigartiges, Großartiges in Händen zu halten: Rattle! Die Wiener! Beethoven! Wen kümmert es da schon, daß der Beethoven-Zyklus (samt Brendel-Zutat, viertes Klavierkonzert) keine Berliner Erfindung, sondern vorher längst andernorts prächtig gelaufen und selbstredend auf CD gepreßt ist. Berlin ist schließlich Hauptstadt, Berlin ist der Mittelpunkt der Erde.

Abbado ist es nur noch selten. Über Abbado reden nicht gar so viele. Natürlich sind alle froh darüber, daß sich sein Gesundheitszustand konsolidiert hat, daß er seine Kräfte wieder sammeln kann zu großen Taten. Aber der Sir scheint den im kommenden Jahr aus dem Philharmoniker- Amt scheidenden Maestro langsam, aber sicher aus dem Scheinwerfermittelpunkt herauszudrängen. Wofür Rattle übrigens nun wirklich nichts kann, er steht, wie Abbado, um der Musik willen auf den Podien der Welt, beide mögen und schätzen einander sehr.

In dieser Woche hat Claudio Abbado sein Orchester, das Berliner Philharmonische, mit einem Programm dirigiert, dessen konzeptionelle Dichte womöglich erst auf den zweiten Blick erkennbar wird. Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre, Vorspiel und Liebestod aus dem "Tristan", fünf Mahler-Lieder und Weberns Orchesterstücke op. 6 eint der Konflikt zwischen verspielter Ironie und Ernsthaftigkeit, zwischen lakonischer Heiterkeit und Dramatik, zwischen Leben und Tod. Vor allem letzteres.

Für die drei Konzerte in der Philharmonie hat Abbado, nebst durchdachtem Programmtext aus eigener Feder, in Sachen Webern die erste Fassung von 1909 (kein Geringerer als sein Lehrer und Widmungsträger des Stücks, Arnold Schönberg, dirigierte die Wiener Uraufführung) erwählt. Und dies nicht ohne Grund. Im Gegensatz zur verschlankten Version zwanzig Jahre später drückt sich in diesem frühen Webern eine autobiographisch begründetete Verzweiflung des Komponisten aus: der Tod der Mutter.

Abbado dirigiert die sechs konzisen Stücke - lediglich das vierte, ein "marcia funebre", übersteigt die Fünfminutenhürde - in diesem außermusikalischen Sinn, jedoch ohne viel Aufsehen. Gewohnt dezent, ruhig, präzise ist sein Schlag, dabei von einer Autorität, wie sie nur wenige Dirigenten dieser Zeit besitzen. Das Webernsche Espressivo, das Implosive seiner Musik, steckt bei Abbado in der Taktstockspitze; es entfaltet sich aus winzigsten Wendungen, Drehungen, Zuckungen, mit einem Wort: aus feingeführten Nadelstichen ins Innerste der Musik.

Es spricht für den eleganten Akupunkteur Abbado wie für sein Orchester, daß mehr Anleitung nicht nötig ist zur Brillanz der Interpretation. Die Plastizität dieses Webern ist, wiewohl von einer rein analytischen, gar anämischen Denkart weitmöglichst entfernt, enorm; selbst kaum wahrnehmbare Verschattungen des Klangbilds, fitzeligste dynamische Abstufungen, minimale Bewegungsänderungen sind hörbar gemacht. Wären diese Stücke Radierungen, sie besäßen gleichsam Dürersche Qualität.

Ist der Mahler danach auch etwas farbiger, so betört hier wie bei Webern die Noblesse, mit der Abbado und die Philharmoniker den Solisten begleiten auf seinem schmalen Grat. Bariton Thomas Quasthoff, stimmlich, besonders in der Höhenlage der Wunderhorn-Werke "Revelge" oder "Des Antonius von Padua Fischpredigt", bis an seine Grenze gehend, nutzt dies weidlich. Wandelt und wandert durch die Lieder, als habe er all das darin Erzählte im gleichen Augenblick erlebt, erlitten, gibt sein Seelenleben offen preis. Mag manche Phrase auch zu wellig, mancher Schlußkonsonant eine Spur zu hart geraten, es packt uns doch, wie er sich in Mahlers zerrissene Künstlerseele versenkt.

Angestaute Energie hier wie bei Wagner. Schier unendlich scheinen die Möglichkeiten der Steigerung, der atemanhaltenden Erwartung (vulgo: Erlösung) im "Tristan" - jedenfalls so, wie ihn Abbado dirigiert. Nichts löst sich auf, nichts entspannt sich, bevor nicht die Stunde des Klimax im dreifachen Fortissimo samt Paukenwirbel und Trompeten gekommen ist. Der Liebestod klingt danach wie eine Befreiung, geradezu ätherisch schön und schwebend. Und die "Tannhäuser"-Ouvertüre wie ein Menetekel, dahin gehend, daß die Welt aus allen Fugen geraten ist. Stellt sich die Frage, wozu eigentlich Oper nötig sei, wenn man Abbado und seine Philharmoniker hat.

JÜRGEN OTTEN