Diese Seite wird von Guy Cherqui, Redaktor des Sites, geschrieben

Editorial

Mailand Juli 2003


Senior Conductor




Neulich sprach ich mit einem jungen französischen Freund über klassische Musik und die Unterhaltung kam automatisch auf Claudio Abbado. Er sagte zu mir: „Du, der Du ein Bewunderer dieses älteren Dirigenten bist…“ Die Bezeichnung hat mich verblüfft. Nie hätte ich daran gedacht, sie in Verbindung mit Claudio Abbado zu benutzen. Natürlich, rein rechnerisch ist er einer der „großen Alten“ unserer Tage, aber er ist immer noch so ein innovativer, dynamischer Chef, so sehr der Jugend verbunden, dass ich nie von ihm als einen „älteren“ reden würde.

Gerade neulich, als ich während langer Autofahrten Dvoraks „Symphonie aus der Neuen Welt“, die „Pastorale“ oder Beethovens Siebente hörte, dachte ich mir, dass diese Stücke unter seiner Leitung sich nie wie ausgereifte Interpretationen anhören. Es sind eher interpretatorische Ansätze, die im Entstehen begriffen sind, immer in anderen Farben glänzen, immer ungeheuer dynamisch, bewegt, jung sind. Für Abbado heißt Musik machen immer wieder auch in Frage zu stellen was man macht, die Partitur lesen und abermals lesen, immer voran schreiten, nicht stehen bleiben.

Claudio Abbado hat die renommiertesten Institutionen der musikalischen Welt geleitet. Der traditionelle Musikbetrieb bietet ihm keine Herausforderungen mehr. Und dennoch hat er der Welt noch so viel zu geben. Für ihn bricht nun die Zeit der freien Entscheidungen an. Der Freiheit zu entscheiden, wie und mit wem er musizieren will. Er hat das lebensnotwendige Bedürfnis nach Musik, aber er will stets offen für neue Ideen sein und hat den Wunsch, immer weiter und tiefer zu forschen. So kennen wir Abbado, den der 60er Jahre wie den von heute.

Ich denke oft an den Satz eines Berliner Kritikers, der sinngemäß einige Zeit vor Ablauf seiner Amtszeit dort sagte: Die Berliner suchen einen jungen Chef: sie haben ihn gefunden. Er heißt Claudio Abbado.

Die Briefe, die der CAI aus der ganzen Welt erhalten hat, zeigen, dass ohne große Werbung, ohne je die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt zu haben, Claudio Abbado ein Dirigent ist, der den Musikfreunden am Herzen liegt. Sie haben zu ihm, der so zurückhaltend ist, ein starkes künstlerisches aber auch besonders herzliches Verhältnis. In diesem Sinne ist er nicht ein „Senior“ sondern ein „Grandseigneur“ der Musik sowie der Kultur.