PARSIFAL in Luzern

Robert Gambill, Violeta Urmana, Eike Wilm Schulte, Alfred Dohmen, Hans Tschammer, Gwynne Howell u.a
Prager philharmonisches Chor
Tölzer Knabenchor

Gustav Mahler Jugend Orchester
Claudio Abbado
27. August 2002


Luzern 2002

Parsifal

Süddeutsche Zeitung 6.September 2002


Claudio Abbado dirigiert in Luzern
einen halbszenischen "Parsifal"

Richard Wagners "Parsifal" bleibt ein Ärgernis, eines der großartigsten der abendländischen Kunst freilich. Dass Eros und Leben nur schwer zusammengehen, hat Wagner immer wieder gezeigt: Im "Holländer", im "Tristan" oder im "Ring" offenbart die Sexualität vor allem ihre zerstörerische Kraft. Nur in den "Meistersingern" scheint so etwas wie eine Synthese möglich. Und dann der "Parsifal", dieses esoterische Potpourri aus Männerbündelei, pseudoreligiösem Pathos, Schopenhauerschem Weltpessimismus und moralinsauerer Sexualhysterie!

Was fangen sie an mit dieser wunderlich-wunderbaren Frömmelei, die etwa 130 Männer und Frauen des Gustav-Mahler-Jugendorchesters, alle unter 26 Jahre jung? Bei einem nicht zu abgeklärten Meister wie Claudio Abbado darf sich der grandiose Widerspruch des "Parsifal" im Konzertsaal des Luzerner Kultur- und Kongresszentrums entfalten: Wagners Musik spricht immerzu vom Eros – auch da, wo der Text Entsagung predigt und Fleischeslust verdammt. Die verzehrende körperliche Liebe Klingsors und die ätherische Gottesminne im Grals-Tempel erschienen unter der Leitung Abbados lediglich als unterschiedliche Formen desselben Verlangens. Wann hat man die Verwandlungsmusiken des ersten und dritten Aktes so sinnlich, so zitternd vor innerer Erregung gehört?

Dem Kontinuum des Menschlichen entsprechen die Gesten des Dirigenten: Sie scheinen im Raum zu fließen, ihn zu modellieren. Magische Momente entstehen aus diesem inneren Dialog, etwa im wunderbaren Pianissimo- Alternieren zwischen Fern-Blechbläsern und gedämpften Streichern beim Morgengebet des ersten Aktes.

Bei den Holzbläsern herrschte der Individualismus vor: hier imponierten Einzelleistungen, unter andrem von Klarinette und Bassklarinette. Insgesamt eine reife Darstellung, jenseits allen Orchester-Narzissmus'. Bei allem Glühen, aller Hingabe treten die Instrumentalisten nie in Konkurrenz zu den Sängern; sogar im Katastrophen-Fortissimo des Titurel-Trauerzugs im dritten Akt bleibt die Balance zwischen Männerchor und Orchester erhalten. Umso schauerlicher die Wirkung. Der Philharmonische Chor Prag überzeugt durch Intonationssicherheit und einen zarten Gesamtklang; impressionistischer Chor- Zauber auch bei den Blumenmädchen des Arnold-Schönberg-Chores. Die charakteristisch spröden Knabenstimmen steuert souverän der Tölzer Knabenchor bei. Seine Sänger sind auf den Galerien des Konzertsaales verteilt und erzielen so eine subtile Raum-Klang-Wirkung.

Die exzellente Akustik verschafft auch den Gesangssolisten den nötigen Freiraum: Albert Dohmen zeichnet den Amfortas mit betörenden Pianissimi als durch seine Versehrung in die Resignation Gezwungenen. Für den anderen großen Leidens-Charakter, Kundry, verfügt Violeta Umana über alle erforderlichen Stimm- und Ausdrucksmittel. Robert Gambill setzt ihr einen baritonal gefärbten Parsifal entgegen, der Partnerin in Stimmkraft ebenbürtig, ohne jedoch ihre Ausdruckstiefe zu erreichen. Hans Tschammer ist ein stimmlich schlanker Gurnemanz und drängt so den altväterisch-belehrenden Unterton der Rolle zurück. Weit entfernt vom Stereotyp des bösartigen Schwarz-Magiers schließlich Eike Wilm Schultes Klingsor: Sein heller, gut konturierter Bass und seine präzise Diktion zeigen das Groteske des verschnittenen Unheiligen ebenso wie die Bitterkeit seines Leidens.

Geballte Ausdrucksfähigkeit also bei den Musizierenden – schade, dass man der Hörfähigkeit des Publikums misstraute und dazu eine altbackene "halbszenische Aufführung" installierte. Sie trug kaum dazu bei, sich ins Werk einzufühlen, lenkte allerdings auch nicht übermäßig ab. Nur als man die Pultbeleuchtung der meisten Musiker abschaltete, war die Aufmerksamkeit der Zuhörer wo auch immer, sicher aber nicht bei den Ekstasen und Verwerfungen des "Parsifal".