WANDERER'S 
ERZÄHLUNGEN Nr.8

Beben und Erregung

Berlin, Juni 2004



 





 


Die deutsche und die italienische Presse hat die Rückkehr Claudio Abbados an das Pult der Berliner Philharmoniker ausgiebig kommentiert. Wir haben im übrigen die wichtigsten Artikel veröffentlicht. Man kann nie genug betonen, wie schön es ist, wieder in Berlin zu sein, diese Stadt von wechselnder Gestalt, mit so kontrastreichen Erinnerungen, die aber weiter ihre Wunden heilt. In der Mitte dieser Stadt, an der historischen Bruchstelle, steht die Philharmonie – welch’ ein außergewöhnlicher Name für einen Bau mitten in einer Stadt, die das Symbol aller Zerrissenheit ist – ein einmaliger Saal, der seit mehr als 40 Jahren Musikgeschichte macht. In den letzten Tagen ist dort Mahlers 6. Symphonie erklungen, die von manchen als Vorbote aller Katastrophen des 20. Jahrhunderts angesehen wird. Vorangestellt waren „Sechs Monologe aus Jedermann auf Texte aus Hugo von Hofmannsthals gleichnamigen Drama“, in Musik gesetzt von dem (französischsprachigen) Schweizer Komponisten Frank Martin mitten im Zweiten Weltkrieg (1943/44, revidiert 1949). Sie lassen das zentrale Drama des Jahrhunderts in Tönen erklingen, die gleichzeitig dunkel und voller Inbrunst sind. Dieses tragische Programm stand im Kontrast zu der außergewöhnlichen Wärme, die wahre Freude, mit der das Berliner Publikum - und die strahlenden Musiker – die „Wiederkehr des alten Königs“ (so der Titel in der Berliner Zeitung) feierten.

Zum ersten Mal seit der Gründung des Orchesters vor 122 Jahren ist ein ehemaliger Chefdirigent zurückgekehrt. Alle starben sie im Amt (bzw. im Fall von Karajan drei Monate nach seinem Rücktritt). Jeder hatte sein eigenes Orchester aufgebaut, Neues auf dem Klang seines Vorgängers erzeugt und das Orchester hatte sich jedes Mal mit dem Künstler an seiner Spitze identifiziert. In dem Moment, in dem Sir Simon Rattle sich anschickt, das Orchester nach seiner Art zu formen, er wie ein Goldschmied am Ton feilt, das Repertoire nochmals erweitert, eine beispielhafte Jugendarbeit leistet – da kommt mit Claudio Abbado die Explosion der Musik hic et nunc zurück, der (ganz im Gegensatz dazu) seine ganze Energie auf den vergänglichen Augenblick des Konzertes lenkt sowie auf die Freiheit und die Freude zusammen zu musizieren.

Und es ist sofort wieder die, zwei Jahre unterbrochene, Idylle mit einem Einsatz, einer Spielfreude, die absolut unversehrt ist. „Als ob er nie weg gewesen wäre“ sagen alle befragten Berliner. Selbst Musiker die inzwischen das Orchester verlassen haben, kehren zurück. Selbst solche, die im privaten Kreis nie ihre Kritik verhehlt haben, drücken ihre Freude aus. „Hab’ das niemals erlebt“ sagt eine begeisterte Zuschauerin. Und alle, Musiker wie Publikum, reden anhänglich von „Claudio“. Vor dieser Rückkehr gab es einen Ansturm auf die Karten. An den Konzertabenden standen bereits 200 Meter vor der Philharmonie die ersten unglücklichen Leute mit „Suche Karte“-Schild. Dies alles zeigt, wie sehr Claudio Abbado Berlin geprägt und wie gut er die Stadt sowie seine Einwohner verstanden hat. Auffallend war auch die hohe Anzahl Jugendlicher im Publikum, was heutzutage – und erst recht bei einem solch anspruchsvollem Programm – ziemlich selten ist.

Dieses, wir erwähnten es bereits, bestand zuerst aus einem wenig bekannten Werk: den Sechs Monologen aus „Jedermann“, Text von Hugo von Hofmannsthal, Musik von Frank Martin und gesungen von Thomas Quasthoff mit seltener Intensität und Ausdruck. Diese Musik, die auf einen Text basiert, der einen unbarmherzigen, unerbitterlichen Gott ertönen lässt, eine Art Pantokrator, erklingt wie ein düsterer Dialog zwischen Streicher, Blech und Schlagzeug. Sie erzeugt eine unglaubliche Konzentration und zwingt einen Glauben ohne Zugeständnisse auf – und das mitten in einer Zeit, in der die Welt tragische Momente durchleidet (wir sind im Jahr 1943, auch wenn die Orchesterfassung von 1949 ist). Quasthoffs Stimme ist gleichzeitig gespenstig und sanft. Man versteht, warum dieser Sänger, gewiß der größte Sänger heute, der trotz seiner Behinderung anfängt, Oper zu singen, es abgelehnt hat, Alberich zu übernehmen. Diese schwierige Rolle, ohne Lyrismen, passt schlecht zu einem Sänger mit einem Timbre, das gleichzeitig so tief wie sanft und empfindsam ist.

Abermals bietet uns Claudio Abbado ein wenig bekanntes Stück an, das sofort einnimmt und durch seine Tiefe überrascht. Wie gewohnt, spielen die Berliner bewundernswert, mit einer makellosen Technik und einem staunenswerten Engagement. Gemeinsam mit Thomas Quasthoff schlagen sie das Publikum in ihren Bann.

Mahlers Sechste ist eine Symphonie, die Abbado relativ selten dirigiert hat. Vielleicht ist sie die am meisten extrovertierte von Mahlers Symphonien. Es ist ein Monument von 80 Min. Musik, bestehend aus drei kontrastreichen, gewaltsamen sowie aus einem langsamen, lyrischen Satz. In diesem lässt Mahler seiner Liebe zur Natur freien Lauf. Meistens wird dieser langsame Satz an dritter Stelle gespielt und es gibt Zweifel darüber, was Mahlers wahre Absichten waren. Claudio Abbado hat, anknüpfend an die Uraufführung, beschlossen, den langsamen Satz an zweite Stelle zu setzen. Dasselbe Orchester hat das Werk bereits mit Sir John Barbirolli in dieser Reihenfolge gespielt, wie uns unser Freund (und CAI-Mitglied) Achille Maccapani mitgeteilt hat. Aber auch Simon Rattle und das City of Birmingham Symphony Orchestra spielten die Symphonie so. Für den Zuhörer ist es unbestreitbar, dass diese Wahl einen ausgeglichenen Zustand schafft nach einem ersten Satz, in dem gleichzeitig eine große Spannung sowie eine klangliche Komplexität von gewaltigen Kontrasten mit einer Zersplitterung des Tones bis zur Unendlichkeit, herrscht - ein gnadenloses Aufheulen einer Musik, die einem zerreißt und verblüfft. Der langsame Satz, getragen von elegischer Nostalgie und Leidenschaft, diese Art von Leidenschaft, bei der einem die Tränen kommen, ermöglicht eine tiefe Konzentration nach der Überrumpelung durch den ersten Satz.

Erwähnen muss man auch, neben anderen Wundern, den Beginn des 4. Satzes, die Explosion der Bläser, der Harfen und der Streicher, die wie eine Vibration durch das Orchester läuft. Erwähnt werden muss natürlich auch das Fortissimo am Ende, so brutal, so gewaltsam, so hart und trocken, dass es nicht nur das Publikum, sondern auch den erschreckt aufblickenden Dirigenten mit sich reißt. Selbstverständlich, der spektakuläre und monumentale Aspekt wird durch die Vielzahl der Instrumente, 4 Harfen, 2 Celestas, Kuhglocken (zum ersten Mal) sowie eine Glocke verborgen in den Kulissen hervorgerufen, aber auch durch diesen beeindruckenden Hammer von fafnerischen Ausmaß. Viele Studien sind durchgeführt worden um einen Hammer zu bauen, der den Wünschen Mahlers entspricht, der kurze, kräftige aber auch dunkle Schläge wollte, die durch ihren nicht-metallischen Charakter wie Axtschläge, bestechen sollten. Der Hörer bleibt sprachlos angesichts der unglaublichen Meisterschaft des Orchesters: eine fehlerlose Technik (Rattle-Effekt?), runde, klare Töne und das alles in Verbindung mit einer unglaublichen Begeisterung und einem großen Einsatz, vollkommen konzentriert auf den Wunsch, alles zu geben.

Die deutsche Presse hat verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht, dass die Berliner gespielt haben, als ob es das letzte Mal wäre, mit der Energie der Verzweiflung, als ob ihr Leben davon abhinge, wie ein Kritiker schrieb. Die befragten Musiker konnten selber nicht erklären, was passiert war, und begnügten sich damit bescheiden zu bemerken, dass die Stimmung eine ganz andere gewesen sei an diesen Abenden. Wir hatten wohl vergessen, wer die Berliner sind! Und so haben wir erneut die Harmonie zwischen Chef und Orchester beobachtet, die unglaubliche Präzision zwischen den Sektionen, mit einer Schwäche für die Oboe (Mayer!), die Flöte (Pahud!), die Hörner angeführt von Stefan Dohr bis zu dem ausdrucksstarken und glücklichem Gesicht eines Wilfried Strehle! Wir werden auch nicht das Schlagzeug und die Harfen und das Geigensolo und… und… vergessen.

Mahler verursacht oft eine stark emotionale Reaktion, die einen Rückzug in sich bewirkt und zu Tränen rühren kann. An diesem Abend werden wir von extremen Gefühlen überwältigt. Sie gehen von eigenen, privaten Emotionen bis zur Unendlichkeit, ein ganz anders gelagertes Gefühl, etwas die Urgefühle betreffend, Angst, Verblüffung, ein Gefühl der Transzendenz, das einem überkommt. Erdbebengleich.








































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