Claudio Abbado im F.A.Z.-Gespräch

Was hören Sie im Schnee, Signore Abbado?



„Es geht mir viel besser“, sagt der Dirigent Claudio Abbado in seiner Berliner Hotelsuite. Im F.A.Z.-Interview spricht er über seine Liebe zu Mahler, musikalische Karrieren und den Klang des Schnees in einem einsamen Tal im Engadin.

Von Julia Spinola

09. Juli 2011

Wir unterhalten uns mit dem Dirigenten Claudio Abbado in seiner Berliner Hotelsuite. Vor uns liegen Partituren und musikalische Manuskripte. Abbado strahlt eine große Ruhe und einen überaus freundlichen, sanften Charme aus. Er spricht mit melodiöser, sehr leiser Stimme.

Was sind das für Manuskripte, die Sie da gerade vor sich liegen haben und studieren?

Das sind Anmerkungen von Alban Berg zu seiner „Lulu“-Suite, die ich neu bekommen habe. Eintragungen in die Partitur, die sehr interessant sind!

Sie haben diese Partitur von Berg seit 1964 schon so oft dirigiert. Ändern diese Eintragungen etwas an Ihrer Interpretation?

Ja, natürlich! Man findet immer etwas Neues. Sehen Sie zum Beispiel diese Bläserstelle: „leierkastenmäßig“ steht da. Das bedeutet für mich, dass dieses Thema etwas „wienerisch“ gespielt werden muss.

Sie studieren die Partituren sehr genau.

Ja, man lernt ungeheuer viel dadurch. Oft gerade auch durch die Korrekturen, die die Komponisten selbst eingefügt haben. Mahler schreibt in seinen Partituren ja über sein halbes Leben, über seine Eifersüchte und seine große Liebe. Das ist sehr aufschlussreich. Der arme Mahler hat so viel gelitten. Seine Ehefrau Alma war nicht so einfach . . .
In der jüngeren Zeit hat man ja ihre Kompositionen entdeckt und behauptet, sie sei von Gustav Mahler unterdrückt worden.

Wie finden Sie denn die Kompositionen von Alma Mahler?

Nicht wirklich bedeutend.

Eben. In Edinburgh habe ich früher einmal ein Mahler-Festival gemacht, wo auch einige Kompositionen von Alma gespielt wurden. Da ist mir klargeworden, dass sie eine gute Studentin war – aber mehr nicht. Sie glaubte jedoch wirklich, dass sie die Größte wäre. Das lag eher an ihrem Charakter als an ihrem Talent.
Hat das Mahler-Jahr neue Erkenntnisse für Sie gebracht?

Ja, aber so wie jedes andere Jahr auch. Jubiläen sind immer nur ein Anlass.

An Mahlers Musik hat sich immer wieder der musikologische Streit entzündet, ob es sich um „absolute“ oder um „Programmmusik“ handele. Hat diese Unterscheidung einen Sinn?

Meiner Ansicht nach kann das jeder so sehen, wie er möchte. Für mich ist das einfach wunderbare, große Musik, die ich liebe. Dafür brauche ich kein Etikett.

Und wie gehen Sie mit Mahlers programmatischen Eintragungen um? Nützen die etwas für die Interpretation?

Man kommt dadurch schon auf neue Ideen. Aber das ist ohnehin das Schöne an den großen Komponisten, dass man in ihren Werken unentwegt neue Aspekte entdeckt. Große Musik ist unerschöpflich. Es gibt in der Musik, genau wie im Leben, keine Grenzen. Daher versuche ich immer, eine Partitur jedes Mal wieder so studieren, wie beim ersten Mal. Alles andere wäre zu einfach – und auch sehr langweilig.

Wie schafft man es als großer Dirigent, die Routine zu vermeiden?

Also erstens: Man muss sie vermeiden. Und zweitens: Der Begriff „großer Dirigent“ hat keine Bedeutung für mich. Groß ist der Komponist. Wir sind nur Diener der Musik und haben die Aufgabe, so viel wie möglich zu verstehen.

Mit manchem bedeutenden Komponisten waren Sie ja befreundet und haben eng mit ihm zusammengearbeitet. Ich denke an Luigi Nono.

Die Zusammenarbeit mit Nono war ungeheuer wichtig und lehrreich für mich, auch, weil wir viele Uraufführungen gemeinsam gemacht haben. Das hat mir Einblicke verschafft darüber, wie ein Komponist denkt, was seine Überlegungen zu einem Werk sind. Und so begann ich, mir auch bei den älteren Stücken, die ich dirigiere, Gedanken über die Ideen des Komponisten zu machen. Darüber hinaus ist es interessant zu sehen, was die Dirigenten aus dem engen Kreis um einen Komponisten gesagt haben. So ist zum Beispiel Bruno Walters Erfahrungsschatz von allergrößtem Wert. Walter, der seit 1894 eine Anstellung als Assistent Gustav Mahlers an der Hamburger Oper hatte, ihm 1901 als Kapellmeister an die Hofoper in Wien gefolgt ist und die Uraufführungen von „Das Lied von der Erde“ und der 9. Symphonie leitete, hat ja auch viel über Mahler geschrieben. Oder nehmen Sie Arnold Schönbergs Texte über die Wiener Schule und über Mahler! Nuria Nono-Schönberg macht im Nachlass immer wieder neue Entdeckungen. Es ist ja sehr aufschlussreich, wenn Mahler über seine 6. Symphonie sagte, um diese Musik zu verstehen, werde man noch ein halbes Jahrhundert brauchen. Tatsächlich braucht man viel Zeit, um in die Geheimnisse einer solchen Partitur einzudringen. Oder nehmen Sie den Sprung, den Schönberg von „Pelleas und Melisande“ und den „Gurreliedern“ bis hin zu seinen letzten Werken gemacht hat: Das ist doch ungeheuerlich. Schon in den frühen Werken arbeitet Schönberg – wie schon andere Komponisten vor ihm – mit den zwölf Tönen, aber Struktur und Methode der Zwölftonmusik entwickelt er erst viel später.

Sie dienen dort nur als Materialbasis, nicht als Formprinzip.

Wenn man das sieht, dann kann man plötzlich auch in der ganz alten Musik diese Prinzipien entdecken: bei Bach natürlich, aber auch bei Gesualdo. Gesualdo war der Modernste von allen. Schauen Sie sich an, wie er mit den Regeln des Gebrauchs von Dissonanzen umgeht! Das ist kühn. Bach war völlig hingerissen davon. Es wäre übrigens hochinteressant, einmal herauszufinden, wie sie überhaupt kommuniziert haben. Bach war, soweit ich weiß, nie in Venosa oder überhaupt in der Region Basilikata. Dennoch gab es einen Kontakt zwischen diesen großen Künstlern. Waren Sie schon einmal in der Basilikata?

Noch nie.

Sie müssen dorthin fahren! Ich war auch erst vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal dort. Aber das war wie eine neue Welt für mich. Man spricht nie über diese Region im Süden Italiens, dabei ist sie so interessant. Es gab dort einen starken Einfluss der griechischen Kultur, später natürlich der römischen. Dort gibt es wahre architektonische Schätze, wunderschöne Amphitheater zum Beispiel.

Bei der Endrunde zum Deutschen Dirigentenpreis ist mir gerade wieder aufgefallen, auf wie viele Dinge es beim Dirigieren gleichzeitig ankommt: Partiturkenntnis, Schlagtechnik, gestische und mimische Kommunikation. Wie lernt man das?

Der Wunsch, Karriere machen zu wollen, ist sicherlich die falsche Voraussetzung. Wichtig ist vor allem eine tiefe Liebe zur Musik. Mir hat Karajan, der wie ein Vater für mich war, sehr wichtige Ratschläge gegeben. Er hatte mich mit dem damaligen Radio Symphonie Orchester Berlin gehört und mich daraufhin nach Salzburg eingeladen. Dort führte ich mit den Wiener Philharmonikern auf meinen Wunsch hin die 2. Symphonie von Mahler auf. So fing alles an. Karajan hat mir immer geraten, nicht zu viel zu machen, nur zu dirigieren, wenn ich mir ganz sicher bin. Er warnte mich davor, einen Fehler zu begehen, den er als junger Mann einmal gemacht hatte: mit einem unsicheren Gefühl dennoch ans Pult zu treten.

Es gibt leider viele Beispiele dafür, dass junge Künstler den Verlockungen einer schnellen Karriere nicht widerstehen können.

Oh ja, man muss sich vor den Strategien der Plattenfirmen in Acht nehmen. Als die Deutsche Grammophon mir vorschlug, einen Zyklus mit allen Mahler-Symphonien zu machen, habe ich zugesagt unter der Bedingung, mir viel Zeit dafür nehmen zu können. Inzwischen habe ich die Symphonien schon drei Mal komplett aufgenommen.

Hören Sie sich Ihre alten Aufnahmen manchmal an?

Ja. Manchmal ist es nicht schlecht, manchmal schrecklich.

Ihr Verständnis von Mahler hat sich also verändert?

Natürlich. Ich bin immer tiefer eingedrungen.

Gibt es zeitgenössische Komponisten, die Sie interessieren?

Als ich das Festival „Wien Modern“ gründete, habe ich mit Nono, Boulez, Berio und Stockhausen zusammengearbeitet. Dann war da noch der junge Komponist Wolfgang Rihm. Auch mit ihm arbeite ich gerne. Er ist ein so intelligenter Komponist und ein so gebildeter Mensch. Auch mit Henze habe ich einiges gemacht.

Was machen Sie, wenn Sie nicht arbeiten?

Ich gehe auf die Berge, ins Engadin in der Schweiz. Da gibt es ein Tal, das Fextal, wo seit hundert Jahren nichts verändert werden darf. Dort gibt es keinen Verkehr, man muss mit der Kutsche oder zu Fuß hingelangen. Ich mache da im Sommer immer lange Spaziergänge, die ideal für mich sind, um zu studieren.

Wie studiert man während eines Spaziergangs? Sie müssen die Musik genau im Kopf haben.

Ja, ich lasse sie mir dann durch den Kopf gehen und wiederhole innerlich alles. Es liegt so eine wunderbare Ruhe in dieser Landschaft. Sogar im Sommer gibt es dort Schnee. Und ich liebe den Klang des Schnees.

Das Geräusch, das es macht, wenn man über ihn läuft?

Nein, man hört ihn auch, wenn man nur auf dem Balkon steht.

Sie hören den Schnee?

Natürlich ist das nur ein ganz minimales, nicht einmal ein wirkliches Geräusch: ein Hauch, ein Nichts an Klang. In der Musik gibt es das auch: Wenn in einer Partitur ein Pianissimo vorgeschrieben ist, das bis zum „niente“ geht. Dieses „niente“ kann man dort oben akustisch erfahren. Mit einem Orchester ist das sehr schwer zu realisieren. Den Berliner Philharmonikern gelingt es manchmal.

Ist es indiskret, wenn ich Sie frage, wie es Ihnen mittlerweile gesundheitlich geht? Aussehen tun Sie jedenfalls blendend.

Es geht mir viel besser. Ich brauche natürlich sehr viel Disziplin, vor allem beim Essen. Aber auch beim Arbeiten. Ich gebe nicht mehr so viele Konzerte: Berlin, Luzern, Orchestra Mozart – das war es schon fast. Und dort entstehen dann auch die Aufnahmen.

Aber nun wollen Sie auch das venezolanische Ausbildungsprogramm „El Sistema“ nach Italien bringen?

Das ist an einigen Orten schon sehr weit gediehen, in Bozen zum Beispiel, wo es jetzt dreitausend Anmeldungen gibt. Wir haben eine Art Netzwerk mit Sitzen in einigen Städten Italiens. In Mailand wird das von Maria Maino sehr gut organisiert, in Fiesole von dem Pianisten Andrea Lucchesini. Schwierig ist es momentan noch in Neapel, da muss ich nächstes Jahr selbst einmal hinfahren.

Eine ganze andere Frage: Haben Sie als ein so erfahrener Dirigent noch so etwas wie Lampenfieber?

Das gibt es natürlich, immer. Aber meine Maxime war es schon von Anfang an, schon während meiner Zeit an der Scala, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren: nämlich, die Solisten und die Sänger auf der Bühne zu unterstützen oder auch die jungen Komponisten, deren Werke ich aufführe. Denn sie stehen ja unter einem viel größeren Druck als der Dirigent. Es hilft, die Aufmerksamkeit von der eigenen Befindlichkeit wegzulenken.

Empfinden Sie Ihre Begabung als Aufgabe, als eine Verpflichtung, Ihr Verständnis der Musik weiterzugeben?

Ja, das habe ich immer getan. Das bewundere ich zum Beispiel auch so an José Antonio Abreu, der das Ausbildungsprogramm „El Sistema“ erfunden hat. Was der in Venezuela auf die Beine gestellt hat: 40.000 junge Musiker auf einen musikalischen Weg zu bringen. Und er dehnt seine Aktivitäten immer weiter aus: auf Brasilien, Mexico, irgendwann wird ganz Südamerika durch sein Engagement musikalisiert sein.

Julia Spinola FAZ 2011