Dirigent Claudio Abbado, Immer wieder neue Pflanzen

Von der Fähigkeit, anderen genau zuzuhören - Claudio Abbado als Dirigent, Orchester    -     Pädagoge und umsichtiger Landschafts-Gärtner.            

 

Claudio Abbado dirigiert einen der von ihm selbst gegründeten Klangkörper, in diesem Fall das Lucerne Festival Orchestra. Foto: dpa

Zu Claudio Abbados Haus auf Sardinien führt ein schmaler Weg ohne Namen. Ich kenne nur eine Hausnummer, die aber selbst der Taxifahrer nicht findet. Den von üppiger Vegetation umwucherten Eingang sehe ich erst, als der Hausherr persönlich öffnet, sichtlich amüsiert über meine Orientierungslosigkeit. Hinter dem Tor erstreckt sich ein auf Terrassen angelegter mediterraner Küstengarten, der an die surrealen Landschaften von Max Ernst erinnert. Nicht der Mensch dominiert hier die Natur, sondern die Pflanzen erobern sich ihren Raum zurück. Über Holzstege geht es auf labyrinthischen Pfaden hinunter zum Meer, vorbei an hochgewachsenen Bananenstauden, Palmen, Passionsblumen und leuchtend roten Hibiskusbüschen, die verschachtelte kleine Patios bilden.
In diese Idylle nahe Alghero an der felsigen Westküste Sardiniens zieht sich der Dirigent zwischen internationalen Konzertauftritten zurück. Der Garten ist ihm zugleich ein Ort der Reflexion und der aktiven Arbeit, an dem er seit fast 40 Jahren seine Vision von Ökologie in die Tat umsetzt. "Beim Schwimmen im Meer habe ich damals diese herrlichen Blumen entdeckt", erzählt Abbado, während er auf einen riesigen Busch violetter Bougainvillea deutet. "Da wurde mir sofort bewusst, dass ich gern hier wohnen wollte."
Um die Landschaft im Umkreis seines Hauses vor der Verschandelung durch Bauspekulanten zu retten, kaufte er mit einer Gruppe von Freunden einen Küstenstreifen, auf dem er mit Unterstützung der Behörden ein neun Hektar großes Naturschutzgebiet geschaffen hat. Inmitten von Pinienwäldern und Macchia habe er einst 9000 Pflanzen angesetzt, jetzt seien es sicherlich schon viele mehr, sagt er. Sein Beispiel hat Schule gemacht, denn der gesamte Küstenabschnitt bis zum Capo Caccia im äußersten Westen Sardiniens ist inzwischen eine geschützte Zone.
"Das Gebiet ist jedem zugänglich", erklärt der 75-Jährige. "Mit dem Auto darf man aber nicht hineinfahren." Er selbst bewegt sich ohnehin am liebsten auf dem Fahrrad oder zu Fuß fort. Seinen Toyota mit Hybridmotor nutzt er so selten, dass er seit mehr als einem Jahr mit einer einzigen Tankfüllung auskommt. Und wenn er im Sommer abends auf der Terrasse sitzt, spenden ihm umweltfreundliche Leuchten mit Sonnenkollektoren genügend Licht. Sein
Lieblingsdichter Hölderlin beschreibt die ewige Sehnsucht des Menschen nach einer Einheit mit der Natur. Es scheint, als sei Abbado diesem Ziel näher gekommen.
Seinen Verwandten und Freunden ist der Musiker ein liebenswerter Gastgeber, doch ebenso wie die Gesellschaft anderer braucht er Stille und Abgeschiedenheit. "Mir ist es wichtig, manchmal allein zu sein", bekennt er. Wie der Garten ist auch das Haus ein Labyrinth aus Räumen, in denen sich viele Menschen aufhalten können, ohne sich ständig zu begegnen. Eine steile Treppe im Haus führt tief in einen Felsen hinein. Am Ende dieses verborgenen Ganges liegt sein Arbeitszimmer, in dem er sich ungestört in seine Musik vertieft und Bücher liest - Romane von Bohumil Hrabal, fantastische Erzählungen von Jorge Luís Borges, Liebesgedichte von Pablo Neruda. Mein Blick fällt auf die Partitur des zweiten Klavierkonzerts von Sergej Rachmaninow, das er im vergangenen Sommer mit Hélène Grimaud und dem Lucerne Festival Orchestra aufgeführt hat.
"Jedes Konzert ist einmalig, ein magischer Moment, der nicht in Worte zu fassen ist", sagt Claudio Abbado. Er erinnert sich noch gut an seinen ersten Besuch in der Mailänder Scala. Antonio Guarnieri dirigierte Claude Debussys "Nocturnes", und der Siebenjährige war von den Harfen- und Trompetenklängen im mittleren Satz "Fêtes" derart fasziniert, dass er sich vornahm, diesen Zauber eines Tages selbst zu erschaffen.
In diesem Jahr realisierte er seinen Traum erneut beim Festival in Luzern, dessen Festival-Orchester er 2003 gegründet hatte. Am Vierwaldstättersee kommen jeden Sommer Nachwuchsmusiker des Mahler Chamber Orchestra und erfahrene Solisten zusammen, die Abbado seit langem verbunden sind. Daraus ist ein intensives Zusammenspiel entstanden, geprägt durch ein besonders aufmerksames Aufeinander-Hören.
Claudio Abbado will kein Autokrat am Pult sein, er führt einen offenen Dialog, behält dabei aber immer alle Fäden in der Hand. Ein Gedankenaustausch sei eine Bereicherung für die Musik, erklärt er, während er beim Mittagessen sardischen Wein und Pecorino-Käse anbietet. "Nicht immer sind dabei alle einer Meinung. Man muss auch lernen, andere Ansichten zu akzeptieren."
Dass diese Ideen auf fruchtbaren Boden gefallen sind, können viele Musiker aus seinem Umfeld bestätigen. Sie loben seine Offenheit und unvoreingenommene Neugier. "Ich habe mich immer gefühlt wie ein Vogel an einer sehr langen Leine, frei und doch unter Kontrolle", sagte einmal Albrecht Mayer. Es gebe wohl kaum einen anderen Dirigenten, der die Kreativität von Musikern so unmittelbar an das Publikum weiterleiten könne, meinte der Solo-Oboist, der bei den Berliner Philharmonikern bereits mit Abbado musizierte und dann auch einige Jahre lang mit ihm in Luzern auftrat.
Die Fähigkeit, anderen genau zuzuhören, bringt der Dirigent seit Jahrzehnten nicht nur in die Arbeit mit den weltbesten Orchestern, sondern auch in sein Engagement für junge Musiker ein. 1978 gründete er das European Community Youth Orchestra, aus dem später das Chamber Orchestra of Europe hervorging. Nach seiner Ernennung zum Musikdirektor der Wiener Staatsoper rief er Mitte der Achtziger Jahre das Gustav Mahler Jugendorchester ins Leben. Mitglieder, die das Alterslimit erreicht haben, spielen inzwischen im Mahler Chamber Orchestra.
Seit seinem Abschied als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker 2002 widmet sich Abbado besonders intensiv der Nachwuchsförderung. Auf seine Initiative hin formierte sich in
Bologna das Orchestra Mozart, und seit mehreren Jahren verbringt er die Winter in Venezuela und Kuba, um jungen Instrumentalisten Unterstützung zu leisten.
In Claudio Abbados Garten baumelt eine Hängematte in den venezolanischen Nationalfarben Gelb, Blau und Rot - ein Geschenk seiner Freunde vom Nationalen Jugendorchester Simón Bolívar. Fast 300 000 Kinder und Jugendliche in dem südamerikanischen Land musizieren mittlerweile in einem System staatlicher Orchester, zu dem jeder Zugang hat, unabhängig von Einkommen und Herkunft. Vor mehr als 30 Jahren wurde das Bildungsprogramm von dem Dirigenten und Volkswirt José Antonio Abreu eingeführt. Abbado ist davon überzeugt, dass dieses künstlerische und soziale Erfolgsmodell unbedingt nach Europa exportiert werden sollte. Anfang 2005 dirigierte er in Venezuela das erste Konzert des Lateinamerikanischen Jugendorchesters, in dem junge Leute aus mehr als 20 Ländern zusammentrafen. In diesem Winter führt er mit dem Simón Bolívar Orchester Mahler auf. Wohnen wird er allerdings nicht mitten im Moloch Caracas, sondern in einem nahegelegenen Naturschutzgebiet.
Laute und schmutzige Großstädte sind dem gebürtigen Mailänder seit langem ein Gräuel. Von Orchestertourneen und Urlaubsreisen bringt er immer wieder neue Pflanzenfür seinen Garten mit. Er lässt sie dort frei wachsen, ohne sie aus dem Auge zu verlieren, zupft hier ein welkes Blatt ab und mustert dort die Farbschattierungen einer Blüte.
Aus Kuba, wo er vor neun Jahren erstmals mit dem Gustav Mahler Jugendorchester gastierte, stammen mehrere Königspalmen von inzwischen stattlichen Ausmaßen. Andere Palmen sind ein Geschenk des Konservatoriums im brasilianischen São Paulo oder private Mitbringsel aus Marokko. Ein Stück weiter, auf einem Felsvorsprung, wachsen riesige Agavenblüten wie Bäume in die Höhe. Ich denke an Voltaire und an "Candide", der die praktische Gartenarbeit leeren metaphysischen Spekulationen vorzieht. "Ist ein Garten nicht eine wahr gewordene Utopie und ein Dirigent, der die Magie des Zusammenmusizierens realisiert, nicht immer auch ein Gärtner?" frage ich. Ja, sagt Abbado, so könne man es durchaus interpretieren, während er auf das Meer hinausblickt, auf das die Sonne flirrende Lichtpunkte projiziert.
Einen "wunderbar Fragebegabten" nannte ihn einmal der Komponist Wolfgang Rihm. Für Abbado ist das Leben ein langes Studium, bei dem er sich nicht auf unumstößliche Gewissheiten zurückzieht. So findet er in Partituren immer wieder neue Antworten, die er mit seinen Musikern der Öffentlichkeit präsentiert. "Ich akzeptiere keine Grenzen und arbeite am liebsten mit Leuten zusammen, die ebenso denken", sagt er. Das Labyrinth seines Gartens ist auch als Metapher für diese unermüdliche Sinnsuche zu verstehen.
Schwierig zu realisierende Mammutprojekte schrecken ihn nicht ab. Um für besseren Musikunterricht an italienischen Schulen zu werben, führte Abbado kürzlich in einer Sportarena in Bologna vor mehr als 4000 Zuhörern Sergej Prokofjews "Peter und der Wolf" und Hector Berlioz' "Te Deum" auf.
Neben seinem Orchestra Mozart, Riccardo Mutis Orchestra Cherubini und dem Orchestra Giovanile Italiana wirkten über 600 Kinder als Chorsänger mit. Mit dem Mahler Chamber Orchestra trat er in Ferrara, Reggio Emilia, Modena und Parma auf und nahm gleich im Anschluss eine neue CD mit dem Tenor Jonas Kaufmann auf. Den Kunststädten in der Emilia Romagna ist er in vieler Hinsicht verbunden. In Bologna, wo ihm die Ehrenbürgerwürde angetragen wurde, setzte er sich jüngst mit einer Unterschriftenaktion dafür ein, dass die historischen Arkadengänge als Unesco-Weltkulturerbe geschützt werden.
In der Berliner Philharmonie gastiert er wieder im kommenden Mai mit Werken von Schubert, Mahler und Debussy, bevor er im Sommer in Luzern den begonnenen Zyklus fortführen wird. Das nächste Festival dort steht unter dem Motto "Natur". Claudio Abbado wird sich in seinem Garten bestens darauf einstimmen können.

Corina Kolbe