Feuilleton
Das
Hören der Stille
Der
Dirigent Claudio Abbado hat immer das vom Musikmarkt Erwartete unterlaufen -
jetzt wird er 80 Jahre alt
Er zählt zu den Musikern, denen Treue und Freundschaft viel mehr bedeuten als
Karrierewünsche. So kehrt Claudio Abbado seit dem Weggang aus Berlin 2002
alle Jahre als Gast zu seinen Philharmonikern zurück - vor einem Monat war es
wieder soweit. Konzertprogramme können Stimmungsbarometer sein, Abbados
Gemütszustand wurde quasi hörbar: Felix Mendelssohn ätherischer
'Sommernachtstraum' und die bizarre 'Symphonie Fantastique' von Hector
Berlioz verwandelten die Philharmonie in eine von Geistern und Dämonen
belebte Landschaft mit nahem Verwandten - eben mit ihm, Claudio Abbado, der
sich den Naturkräften und der Schönen Literatur so nahe fühlt wie der Musik.
Tatenlosigkeit oder Resignation scheint Abbado auch im Alter nicht zu kennen.
Aber da ist Gelassenheit, animiert von Schwung: Elastischen Schritts eilt er
zum Podium, wo er auf das Sicherheit bietende Pultgeländer verzichtet.
Auswendig dirigiert er, federnd die Arme und ein fordernder Blick der
Neugier. Da steht ein Künstler, der noch immer aufbrechen will ins Offene -
am liebsten mit jungen Musikern, denen er durch seine Orchestergründungen zur
Seite stand und steht.
Wer sich die Laufbahn Abbados mit ihren Stationen vergegenwärtigt, stellt
fest, dass dieser Dirigent das von Publikum, Kritik und Musikmarkt Erwartete
immer unterlaufen hat. Um seiner ganz persönlichen Ziele willen, die auf
Idealen gründen. In Mailand, seiner Geburtsstadt, studiert er Musik und ist
ab 1971 viele Jahre Musikdirektor der Scala, die er dem Zeitgenössischen
öffnet, vehement für die Musik seines Freundes Luigi Nono. Neben Rossini und
Verdi wird seine Vorliebe für die Russen erkennbar, voran für Mussorgski. In
London und Chicago stürzt er sich dann in die damals noch nicht voll
erschlossene, heute oft abgespielte Welt Gustav Mahlers.
Wien, wo er wie Mehta, Jansons, Sinopoli bei Hans Swarowsky Schüler war,
schärfte ihm den analytischen Blick auf Schönberg und die nachfolgende Moderne.
Als Musikdirektor der Wiener Staatsoper, ab 1986, gründete Abbado das
Gustav-Mahler-Jugendorchester und das Festival Wien Modern. Die
Karajan-Nachfolge in Berlin sorgt für Verblüffung, denn Abbado ist bei
Orchesterproben mehr spröder als kommunikativer Maestro - nicht alle schätzen
das. Aber die aus dem magischen Augenblick schöpfenden Konzerte, Abbados
beflügelnde, von Film, Literatur und Kunst inspirierten Jahresthemen will
dann niemand mehr missen. Als Abbado aus heiterem Himmel ankündigt - wenig später
wird er schwer krank -, Berlin zu verlassen, wundert sich die Musikwelt über
das Maß innerer Freiheit, das dieser Schritt bedeutet. Nur wenige Dirigenten
sind in der Lage, vor- und rechtzeitig zu gehen. Die Generation nach
Toscanini, Furtwängler und Karajan denkt nicht mehr autokratisch.
Die Erfüllung von Abbados Dirigententraum wird ab 2003 das Lucerne Festival
Orchestra: subtiles Musizieren mit Freunden. Statt gewohntem Orchesterdienst
jeden Sommer der Dienst an der Musik. 'Für Claudio' spielen die Musiker seine
Favoriten Beethoven, Schubert und Schumann, Brahms, Bruckner, Mahler,
Schönberg, Berg - es sind die seelisch Fragilen, die seine Seele
herausfordern. 'Es mag romantisch, vielleicht sogar banal klingen, aber er
hat eine außerordentliche Art, die Musik leuchten zu lassen', sagte die
Geigerin Isabelle Faust, die mit Abbado das Beethoven- und das Berg-Konzert
spielte.
Und keine Spur von Italianità bei dem wortkargen Mailänder? Er hat keinen
Interpretationsstil entwickelt, kein Klangmarkenzeichen. Aber Abbados
fließendes Musizieren aus tiefer Reflexion, Formgefühl, erzeugt Helligkeit
und Transparenz. Seine Spontaneität überträgt er auf die Musiker, das führt
zur jüngsten Ensemblegründung: Mit dem Orchestra Mozart in Bologna kann er
jetzt sogar seine alten sozialen Neigungen, wie früher mit den Freunden
Maurizio Pollini und Nono in Reggio Emilia, aufleben lassen - man geht auch
in Krankenhäuser, Schulen, Gefängnisse.
Kein Stardirigent: Abbados Charisma ist leiser geworden, seit er die
Krankheit überstand. Wenn er vor dem Orchester steht, baut er nicht an
Klangwänden, er lässt Kammermusik entstehen, wie er sie als Kind einer
Musikerfamilie gehört hat. Hören ist ihm zentral. Orchestermusiker sollen es
lernen: das Aufeinanderhören, Artikulieren, das Hören der Stille, aus der
Musik die Essenz schöpft. Als er Nonos 'Prometeo', die 'Tragödie des Hörens',
1984 in Venedig herausbrachte, später Mahlers tragische Neunte mit dem
unendlich langen leisen Verklingen dirigierte - immer war und ist Claudio
Abbado, der Leser Hölderlins, auf der Suche nach der geheimen Welt der
Zurückgezogenheit, Stille. Heute feiert er seinen 80.Geburtstag. WOLFGANG
SCHREIBER
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