Zum Abbados Geburtstag, ein Gespräch in der NZZ

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Claudio Abbados Geburtstag

Neue Zürcher Zeitung

Neue Zürcher Zeitung, 21.Juni 2003

Ein Mitteleuropäer aus Italien

Der Dirigent Claudio Abbado - ein Gespräch

zu seinem 70. Geburtstag

Claudio Abbado, der am 26. Juni seinen 70. Geburtstag begeht, gehört zu den prägenden Dirigenten unserer Tage. Unverkennbar Ton und Ausdruckshaltung, wenn die Berliner Philharmoniker, denen er ein gutes Jahrzehnt lang als Chefdirigent verbunden war, Brahms spielen. Und sein weniger von Autorität als von Kooperation ausgehender Arbeitsstil hat das Berufsverständnis des Dirigenten nachhaltig geprägt. Dazu dies Gespräch; die Fragen stellte Peter Hagmann.


Maestro Abbado, Ihre jüngste CD mit den Berliner Philharmonikern* gilt Richard Wagner, und auch mit dem Lucerne Festival Orchestra, das unter Ihrer Leitung steht und das diesen Sommer erstmals auftreten wird, werden Sie Wagner spielen. Ist das Musik, die Ihnen jetzt näher kommt?

Nein. Ich habe immer Wagner dirigiert, ich liebe diese Musik. Meine erste grosse Auseinandersetzung mit seiner Musik war «Lohengrin», den ich 1981 in der Inszenierung von Georgio Strehler an der Mailänder Scala dirigiert habe. Aber mit Wagner ist es wie mit allen grossen Komponisten: Ich wusste immer, dass man sich für ihre Werke Zeit lassen muss. Wie schön ist es, dass ich jetzt Zeit habe zum Studieren, zum Lesen. In einer Partitur kann man immer wieder Neues finden, und es gibt ja auch noch so viele Quellen jenseits der Partitur.

WAGNER - EIN PROBLEM?

Ist es für Sie kein Problem, sich mit Wagner zu beschäftigen?

Nein, warum - wie ich schon sagte, liebe ich seine Musik. Meinen Sie politisch?
Ja. Ich finde, es ist nicht richtig, dass Wagners Musik, wie auch die von Richard Strauss, in Israel verboten ist. Die Leute kennen diese Musik ja nicht. Zwischen Strauss und Mahler gab es einen Briefwechsel. Strauss selbst hat Mahlers Vierte dirigiert, und Mahler hat Musik von Strauss dirigiert. Als ich in Israel war - ich habe dort gute Freunde und habe auch das Israel Philharmonic dirigiert -, habe ich gesagt, dass das Verbot der jüdischen Komponisten durch das Nazi-Regime schrecklich
und ein grosser Fehler war. Aber in Israel macht man jetzt den gleichen Fehler. Die Musik von Wagner, von Strauss ist doch grossartig, sie sollten sie nur hören. Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die den Walküren-Ritt nicht mehr hören können; diese Musik ist in einem furchtbaren Zusammenhang benutzt worden - aber das ist eine andere Sache.

Bei den Internationalen Musikfestwochen Luzern haben Sie 1996 mit dem Gustav-Mahler- Jugendorchester
das «Meistersinger»-Vorspiel aufgeführt. Ein besonders schwieriges Stück, durch seine Rezeptionsgeschichte belastet. Ich hörte es damals sehr weich, geschmeidig, auf die Lineatur ausgerichtet. Hat das damit zu tun, dass Sie Italiener sind, dass Sie eher links denken und dieser Musik die autoritäre Attitüde austreiben wollten?

Es tut mir leid, aber es hat nichts damit zu tun, dass ich in Italien geboren bin, es hat nichts damit zu tun, dass ich einige linke Ideen habe. Musik ist Musik. Ich habe natürlich nicht nur das Vorspiel, sondern die ganze Partitur studiert; fast alle Themen
der Oper erklingen ja im Vorspiel. Wenn man nun den Zusammenhang kennt, aus dem die Themen stammen, und die Musik zusammen mit den Stimmen hört, dann bekommt vieles eine ganz andere Bedeutung, eine ganz andere Farbe, und entsprechend ändert sich die Interpretation.

Das Lucerne Festival Orchestra, mit dem Sie Ihr nächstes Wagner-Projekt verwirklichen werden, geht, was den Aufbau und die Vorbereitung betrifft, von Prinzipien aus, die Sie in Ihrer Arbeit mit Jugendorchestern entwickelt haben. Wie hat diese Arbeit angefangen?

Sie kam langsam, es begann 1962/63, als ich Dozent für Kammermusik in Parma war - mit wunderbaren Schülern, einige waren älter als ich. Ich war richtig glücklich, ich konnte die Besten der letzten Jahrgänge unterrichten in Kammermusik für grosse Ensembles, für Klavierquintett, für Oktett. Ich habe da schon angefangen zu sagen, sie sollten zuhören, nur zuhören, und dann erst spielen. Später habe ich dann gedacht, vielleicht kann man so etwas nicht nur für Kammerensembles, sondern auch für ein Orchester unternehmen - und dann kam die Einladung zu einem Festival von Jugendorchestern 1975 in Aberdeen.

Wieso sind Sie da hingegangen?

Weil ich dachte, das ist eine tolle Idee, das mache ich gerne. Es war wunderbar. Es gab ein Konzert in Aberdeen, mit der Geigerin Kyung Wha Chung als Solistin, das dann bei den Proms in London wiederholt wurde. Und dann habe ich gedacht, es wäre schön, mit jungen Musikern aus den europäischen Ländern etwas Neues zu machen. So hat das angefangen. Es ist etwas Besonderes, mit Jugendorchestern zu arbeiten. Ich habe die Jungen nie anders
angesprochen als die Musiker in Berufsorchestern, und was von ihnen zurückkommt, ist toll.
Sie glauben hundertprozentig an das, was sie machen, sie sind noch nicht von der Gewerkschaft beeinflusst, noch nicht vom Leben und von seinen Problemen belastet, auch nicht aufs Geld ausgerichtet - wir spielen alle ohne
Gage. So sind wir wirklich nur für die Musik da.

WIEN - UND MAHLER

Bevor das alles begann, haben Sie in Mailand studiert und sich dann entschlossen, nach Wien zu gehen. Lag der Schritt von der Lombardei in die alte k. u. k. Hauptstadt für Sie nahe?

Es geschah einfach so. Ich war in Siena, an der Accademia Chigiana, mit Zubin Mehta und Daniel Barenboim. Zubin hat mir gesagt, in Wien unterrichtet Hans Swarowsky, und das musikalische Leben ist dort so interessant, komm doch auch nach Wien. Ich hatte ein Stipendium gewonnen, aber das reichte kaum zum Leben; später habe ich dann auch ein Stipendium in Wien erhalten. In dieser Zeit habe ich noch weiter Klavier gespielt und komponiert. Und natürlich mit Swarowsky gearbeitet.

Wie war das denn, als Sie 1955 nach Wien kamen, zehn Jahre nach dem Krieg. Haben Sie Musik der Zweiten Wiener Schule im Konzert gehört? Wurde im Goldenen Saal Mahler gespielt?

Selten. Aber wissen Sie, was ich kennen gelernt habe? Einen Trauermarsch auf der Strasse. Der Rennweg, die Strasse, die ich täglich entlangging, führt zum Wiener Zentral-Friedhof, und bei Staatsbegräbnissen hat die Kapelle gespielt wie in einer Mahler-Sinfonie. Das war für mich wie Mahler auf der Strasse.

Haben Sie die Partituren von Mahler denn damals schon gekannt?

Nein. Ich habe erst später angefangen, Mahler zu studieren.

Ich frage darum, weil oft gesagt wird, Abbado ging nach Wien und hat dort die Musik von Schönberg, Berg und Webern und die von Mahler kennen gelernt. In Wirklichkeit ist es doch so, dass die Musik der Zweiten Wiener Schule 1955 in Wien wenig bekannt war. Und die Mahler-Renaissance hatte ja noch kaum angefangen. Sie haben sich dann selbst beteiligt an dieser Renaissance.

Das ist richtig. Ich habe ja selbst gekämpft, in den Anfängen von «Wien Modern», um die Musik von Schönberg. Allerdings habe ich durchaus Mahler im Konzert gehört, die Dritte zum Beispiel mit Vaclav Neumann im Musikverein. Und ich kannte natürlich die legendären Plattenaufnahmen Bruno Walters mit den Wiener Philharmonikern von der neunten Sinfonie und vom «Lied von der Erde».

Eine Zeit lang waren Sie auch Assistent von Leonard Bernstein, einem der Protagonisten der Mahler-Renaissance. Haben Sie mit ihm über Mahler gesprochen?

Gelernt habe ich von Szell, Krips und Bernstein. Besonders viel von Szell, auch menschlich. Von ihm wurde immer behauptet, er sei ein Diktator; vollkommen falsch, er war sehr freundlich. Bernstein hat damals Mahlers Zweite dirigiert, und er hat mir manches über die Hintergründe zu der berühmten Aufnahme mit Bruno Walter erzählt. Ich habe ihm bei den Proben assistiert.

Bernsteins Mahler-Aufnahmen mögen in mancher Hinsicht zu diskutieren geben, aber sie sind schon sehr eindrücklich: eine Pionierleistung.

Ja. Als Dirigent war er genial. Zum Beispiel die Neunte Mahlers mit den Berlinern - da gibt es im ersten Satz phantastische Stellen, er interpretiert da ganz frei.

Mit Mahlers Zweiter haben Sie dann bei den Wiener Philharmonikern debütiert, das war 1965 in Salzburg. War da gleich eine gute Beziehung mit dem Orchester?

Ja und nein. Nach Mahlers Zweiter sind die beiden Herren vom Vorstand gekommen und haben gefragt, was ich denn noch dirigieren würde. Ich habe gesagt, ich würde gerne alle Sinfonien von Schubert dirigieren. Sie, ein Italiener? Ja, habe ich gesagt, ich liebe Schubert. So ist es dazu gekommen. Die ersten Sinfonien Schuberts, bis hin zur Fünften, waren sehr schön mit den Wiener Philharmonikern. Aber bei der Siebten und der Achten, da gab es Probleme. Sie hatten ihre Gewohnheit und haben zum Beispiel nicht gleich akzeptiert, im ersten Satz der «Unvollendeten» die Wiederholung zu spielen, diese Akkorde, das Original von
Schubert mit dem Pedal, das natürlich wie ein Fehler klingt, aber doch so schön und sehr modern ist - Mahler hat diese Idee später übernommen. Das wollten sie nicht. Es gab eine grosse Diskussion. Ich habe ihnen gesagt, das Manuskript der grossen C-Dur-Sinfonie und von einigen anderen Sinfonien gibt es in diesem Haus, in dem Sie täglich spielen; gehen Sie ins Archiv und schauen Sie, was dort steht, es ist alles klar.

BEETHOVEN - HISTORISIEREND?

Mit den Wiener Philharmonikern haben Sie zwischen 1985 und 1988 Ihre erste Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethovens gemacht. Vieles an dieser Aufnahme geht auf Wiener Gewohnheiten zurück. Bei der neuen, der zweiten Gesamtaufnahme aus dem Jahre 2000 mit den Berliner Philharmonikern sind ganz klar Erfahrungen mit der historischen Aufführungspraxis hineingeflossen. Sie nehmen das zur Kenntnis?

Natürlich. Man hat sehr viel gelernt in den letzten Jahrzehnten. Ich habe früher häufig die autographe Partitur beigezogen. Heute weiss ich, dass der Erstdruck der Partitur fast noch wichtiger ist. Bruckner, auch Mahler, hat Korrekturen im Manuskript gemacht, die dann in den Erstdruck eingeflossen sind. Und ich habe selbst erfahren, wie viel Komponisten unserer Zeit ändern, wenn sie ihre Werke zum ersten Mal hören. Zurück zu Beethoven: Natürlich lernt man. Ich habe schon früh von den Diskussionen über die Metronomzahlen und die originalen Tempi bei Beethoven gelesen, und ich habe immer gedacht, da stimmt etwas nicht. Erst später habe ich verstanden, was wichtig ist. Nicht die Metronomzahlen an sich sind wichtig, wichtig sind die Relationen zwischen den Tempi der verschiedenen Sätze, wie sie sich in den Metronomzahlen ausdrücken.

Ist das auch ein Grund, warum Sie zum Beispiel die Mahler-Sinfonien, die Sie in den achtziger Jahren mit dem Chicago Symphony Orchestra aufgenommen haben, mit den Berliner Philharmonikern später ein zweites Mal eingespielt haben?

Mahlers Siebte zum Beispiel. Erst habe ich gedacht, die Aufnahme aus Chicago ist doch gut, wir brauchen nicht noch eine. In den letzten Jahren ist mir klar geworden, wie sehr sich meine Sicht auf das Werk geändert hat. So habe ich es noch einmal mit dem Mahler-Jugendsinfonieorchester erarbeitet und dann mit den Berlinern. Ich glaube, das ist viel besser als mit Chicago.


DIE MODERNE - IN ITALIEN

Und Mailand? Sie haben dort doch unglaublich viel Zeitgenössisches gemacht, in der Scala, in Konzerten, bei der Reihe «Musica/Realtà» in Reggio Emilia. Wie empfinden Sie das heute? War es eine Zeit voll von Energie, hatte das etwas mit dem Aufbruch von 1968 zu tun?

Ich glaube, es war richtig, die Scala für ein neues Publikum zu öffnen; früher war hier nur eine Elite vertreten. In Italien haben wir eine grosse Tradition für Oper. Wir haben keinen grossen Komponisten gehabt für sinfonische Musik. So habe ich gedacht, ich muss Musik aus unserer Zeit spielen und Mahler oder Bruckner, deren Werke praktisch nie zu hören waren - ja selbst die frühen
Sinfonien von Schubert waren unbekannt, nicht nur in Mailand. Das Publikum war völlig uninformiert - erst recht, was die neuere Musik betrifft. Meine Überzeugung war immer, dass man sich nie vor etwas verschliessen und immer versuchen sollte zuzuhören. Viel von der Musik, die damals als unmöglich angesehen wurde, ist doch so schön, und heute klingt sie wie klassische Musik.

Haben Sie sich gegenseitig Mut gemacht - Sie, Pollini und Nono?

Ja, wir waren gute Freunde. Viele Leute haben geglaubt, das sei eine politische Sache, weil Luigi Nono in der Kommunistischen Partei war . . .

Sie waren nicht in der Partei?

Ich war nie in einer Partei. Ich habe die Idee, einer Partei anzugehören, immer gehasst. Man muss frei sein. Deshalb habe ich auch 1968 zusammen mit Rafael Kubelik, Nathan Milstein und Daniel Barenboim gegen den Einmarsch der Russen in Prag protestiert. Das war doch entsetzlich, aber niemand hat darüber gesprochen, weil es für die linke Partei, die Kommunisten, nicht gut war. Für die Rechten war es auch nicht gut . . .

Also hatte Ihr Engagement in Italien nichts Politisches?

Nicht direkt. Wenn man über Kulturpolitik spricht, so ist das etwas anderes. Ich finde, man sollte das Moderne fördern. Und ich habe einfach versucht, die Türe zu öffnen für alle, nicht nur in der Scala. Ich habe gesehen, dass es Leute gibt, die nicht die Möglichkeit hatten, in die Scala zu kommen, weil es zu viel kostet. Deshalb haben wir die Preise für Studenten gesenkt. Und dann habe ich mit dem Scala-Orchester in Fabriken gespielt, und in Reggio Emilia, bei «Musica/ Realtà», haben wir bei offenen Proben Gespräche mit dem Publikum veranstaltet. Da gab es Musik von Nono, die diese Leute nie gehört hatten - aber auch die «Eroica» von Beethoven hatten sie nie gehört. Die Reaktionen im Publikum waren unglaublich. Sie versuchten zu verstehen.

Wo, glauben Sie, hat denn dieses Engagement seine Wurzeln?

Mein Grossvater war Lehrer für alte Sprachen an der Universität von Palermo. Während des Studiums hatte er einen Konflikt an der Universität, deshalb ist er nach Leipzig gegangen, um dort zu studieren, auf Deutsch natürlich.

Sie glauben, dass da etwas aus dieser nördlichen Kultur zu Ihnen gekommen ist?

Mitteleuropäische Kultur - ja, sicher.