Zum Abbados Geburtstag, ein Artikel in der Berliner Zeitung

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Claudio Abbados Geburtstag

Berliner Zeitung

Berliner Zeitung, 25.Juni 2003

Die Kunst des Ermöglichens

Zum 70. Geburtstag von Claudio Abbado

Peter Uehling

Nachdem Claudio Abbado seinen Rücktritt vom Pult der Berliner Philharmoniker längst angekündigt hatte und der Nachfolger Simon Rattle bereits feststand, hielt der damals gerade frisch gekürte neue Intendant Franz Xaver Ohnesorg in der Kulturstiftung der Deutschen Bank eine programmatische Rede darüber, wie man ein Symphonieorchester für das 21. Jahrhundert flott macht. Es sprach letztlich über marketingtechnische Kinkerlitzchen, die Konzerne wie Nike und McDonald's längst so oder so ähnlich realisiert hatten, und lediglich die hemmungslose Übertragung von derlei Albernheiten auf den Bereich der Kultur darf als Verdienst Ohnesorgs gelten.

Eine Vision war das nicht gerade, geschweige denn eine Überlegung zur Frage nach der Funktion von ernster Musik in einer Konsum- und Informationsgesellschaft. Aber das Verständnis der anwesenden Finanzexperten war damit natürlich gewonnen, und einer sagte sogar, er könne den Anfang der Ära Rattle kaum erwarten. Argloser und damit ehrlicher konnte man das, was da gerade zu Ende ging, nicht gering schätzen. Als handelte es sich bei Abbado um ein wegzurationalisierendes Hindernis, eine künstlerische Verkrampfung, die sich dem locker-fröhlichen Verpoppungs-Programm, dem, was "die Leute" angeblich sehen wollen, entgegenstellt.

Tatsächlich stellte sich Abbado entgegen. Nicht jedoch, indem er etwa dem Orchester seine Auftritte mit den "Scorpions" auszureden versuchte. Er räumte den Philharmonikern vielmehr genau das ein, was ein kluger Vater seinen Kindern immer ermöglicht: das Machen von Erfahrungen. Das In-die-Irre-Gehen bereichert den Geist ungleich stärker als das An-der-Hand-Gehen. Die Welt geht von einem Fehler nicht unter, aber der Mensch hat die Chance, sich durch ihn zu entwickeln. In diesem Gewährenlassen ist unschwer ein Wesenszug des Dirigenten zu erkennen, der ihn von allen anderen Dirigenten, ja geradezu vom Begriff des Dirigenten unterscheidet. Denn der besteht darin, die Musiker eben nicht gewähren zu lassen, sondern ihnen haarklein vorzuschreiben, was wie zu spielen ist. Damit verbunden ist die Anmaßung, hoch qualifizierten Spezialisten zu sagen, was sie zu tun haben; sie ist es, die Dirigenten immer auch etwas lächerlich dastehen lässt, in den Augen von Orchestermusikern sowieso, aber auch in denen eines distanzierten Beobachters.

In Abbados Gestik dagegen fehlen auftrumpfende Großartigkeit wie elegantes Understatement, weder leidet er dem Orchester den Ausdruck vor, noch gängelt er es mit vorgeführter Sachlichkeit. Sein Dirigat hat vielmehr etwas ungewöhnlich Schwankendes, scheinbar Unsicheres, Wolfgang Rihm hat es anlässlich des 65. Geburtstages in dieser Zeitung etwas "Fragendes" genannt. Die Hände befinden sich meist weit vor dem Körper, relativ hoch, in einer Position, die entschiedene Gesten erschwert. Es geht nicht ums Befehlen, sondern ums Ermöglichen. Abbados Dirigieren schafft vor allem Raum, und manchmal scheint es tatsächlich Linien durch den Raum zu ziehen, einer Orchestergruppe bedeutend, auf eine andere zu hören. Und so ist auch Abbados Darstellungs-Ideal über die Alternative zwischen interpretatorischer Eigenmächtigkeit und dem so genannten Dienst am Werk beziehungsweise am Komponisten hinaus. Die Häme, unter Abbado klängen alle Komponisten gleich, erfasst vielleicht sogar etwas Richtiges: Denn es scheint, als begriffe Abbado den Komponisten nicht anders als den Interpreten als einen, der sich um Musik schlechthin bemüht, um ihre Möglichkeiten, um ihre Grenzen, um ihre Fähigkeiten zur Kommunikation mit dem Hörer.

Um das Hören als der komplementären Tätigkeit zum Komponieren und Interpretieren kreist denn auch das Denken Abbados. Dass unsere Welt vom Blick, vom Sehen bestimmt ist, muss nicht eigens dargelegt werden. Dass aus der Dominanz dieses Sinnes eine Kultur des Taxierens und raschen Abschätzens hervorgeht, dass die Zusammendrängung scheinbar alles Wissenswerten in den Zeit-Punkt des Bildes die Geistesvorgänge auf Kosten ihrer Gründlichkeit enorm beschleunigt, ist ebenfalls nicht neu. Schon begegnet man Menschen, die keine Fragen mehr stellen, weil sie am Anblick ihres Gegenübers genug zu haben meinen, und statt dem anderen beim Sprechen zuzuhören, warten sie nur darauf, mit ihrem eigenen Beitrag vorzupreschen. Um nichts weniger als dieses letzten Endes soziale Problem geht es Abbado, wenn er vom Hören spricht.

Der Hörende erweist dem, dem er zuhört, seine Wertschätzung: Immerhin schenkt er ihm Zeit, also ein Stück seines Lebens. Das verleiht dem Hören seinen existenziellen Ernst. Musik als Einübung ins Zuhören - so könnte man vielleicht das Anliegen des Dirigenten Abbado bezeichnen. Nicht nur den Musikern ist durch Abbados Dirigat das Aufeinander-Hören aufgegeben, auch der Hörer wird der Musik ohne die Hilfen nachdrücklicher Interpretationsakzente überlassen, wie sie der Nachfolger Rattle so deutlich setzt - entsprechend schwer ist in Worte zu fassen, was Abbado eigentlich mit der Musik macht. Aber so gleichgültig es inzwischen ist, ob es in einem Musikstück um Liebe, um den Faust oder um motivisch-thematische Arbeit geht, oder ob der Interpret vor allem den Klang oder die historische Rhetorik einer Komposition herausarbeitet, so wichtig ist heute eine Kultur des Hörens als Ergänzung und sanfte Korrektur einer Kultur des Sehens. Aber wer steht jetzt noch für sie ein? Zu seinem 70. Geburtstag sei Claudio Abbado zugerufen, wie sehr er uns hier fehlt.