Zum Abbados Geburtstag, ein Artikel in der Welt

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Claudio Abbados Geburtstag

Die Welt

Die Welt , 26.Juni 2003

Gewissen mit Taktstock

Verstummt, doch bald wieder da: Zum 70. Geburtstag von Claudio Abbado

von Manuel Brug

Er hat Wort gehalten. Seit seinem Abschied aus Berlin im April vorigen Jahres, den er unspektakulär wollte und der dann doch in Szene gesetzt wurde, mied Claudio Abbado das Pult. Fast.

Eine enthusiastische, auch tränenselige Italien- und Wien-Tournee mit den Berliner Philharmonikern folgte. Zwei Konzerte mit dem von ihm mit auf den Weg gebrachten Chamber Orchestra of Europe in Paris, Verdis "Simon Boccanegra" in Florenz, Wagners "Parsifal" in Edinburgh", drei Konzerte mit dem von ihm gegründeten Mahler Chamber Orchestra in Italien: Wiederholungen alter Projekte. Lange schon eingespielt auch drei superbe CDs, eine mit Debussy-Werken, der Pariser Mitschnitt mit orchestrierten Schubert-Liedern und - ganz aktuell (Deutsche Grammophon 474 377-2) - eine lichte lyrische Fortsetzung seiner orchestralen Wagner-Wanderung in vergeistigte jenseitige Welten ("Parsifal"-Suite) und kämpferisch zupackende Sphären ("Tannhäuser"-Ouvertüre).Und eine Erklärung gegen die Berlusconi-Regierung. Der linke Geist von früher, er regt sich.

Seither aber: das Schweigen, die Ruhe. Auch eine große Leerstelle. Seit der berühmte Dirigenten-Jahrgang 1912 abgetreten ist (Kurt Sanderling, der letzte Überlebende, hat freiwillig den Taktstock beiseite gelegt), andere wie Carlo Maria Gulini krank aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden sind, stehen so unterschiedliche Dirigentennaturen wie Kurt Masur, Michael Gielen, Christoph von Dohnányi, Herbert Blomstedt und - mit seinem heutigen siebzigsten Geburtstag - nun Claudio Abbado als große Alte da.

Sieht man von Masurs politischer Rolle ab, von Gielens scharfzüngigem Einsatz für die Moderne, so erscheint plötzlich einzig Abbado als weltberühmte, moralische und interpretatorische Autorität, als musikalisches Menschheitsgewissen mit Taktstock.

Große Worte, die er selbst abwehren würde. Sie sind aber, mag die Persönlichkeit Abbados auch ihre kleinlichen Seiten haben, gerechtfertigt, wenn man seinen sinnfälligen Einsatz für die Sache bedenkt - in einem nicht immer sinnvollen, oft eitel an sich selbst berauschten, doch finanziell am Tropf der Allgemeinheit hängenden Elitebetrieb wie dem des klassischen Musikmachens. Natürlich wollte auch ein Claudio Abbado ohne finanziell nach links und rechts zu schauen, immer das Beste für sich, die Seinen und die Zuhörer. Natürlich hat auch er in fetten Zeiten die Kuh gemolken. Aber er hat Werte geschaffen und ein Bewusstsein. Über die man verstärkt nachzudenken beginnt, jetzt, wo er nicht mehr da ist, wo Zeiten der Krise eine Überprüfung der Besitzstände und des Anspruchsdenkens verlangen.

Claudio Abbado, geboren am 26. Juni 1933 in Mailand, Norditaliener, aber auch geprägt durch das sizilianische Erbe seiner Mutter, hat finanzielle Beschränkung, aber auch großen musikalischen wie emotionalen Reichtum in seiner Familie erfahren. Er hat das weitergegeben. In einem meistenteils rückwärtsgewandten Betrieb hat er sich, schon seit seinen Anfängen als Kammermusiklehrer am Konservatorium in Parma, für den musikalischen Nachwuchs eingesetzt. Er gründete Jugenorchseter. Die Früchte dieser Arbeit sind Ensembles wie eben das Chamber Orchestra of Europe und des Mahler Chamber Orchestra, unabhängige und sich fortentwickelnde Klangkörper.
Claudio Abbado hat darüber hinaus besonders in seinen nicht turbulenzfreien Jahren an der Scala zwischen 1968 und 1986 Pionierarbeit geleistet. Einerseits für das traditionelle Repertoire der Italiener, für Verdi und Rossini, die er von der Schlamperei der Routine befreite. Anderseits, in dem er durch seine prägenden Wien-Erfahrungen in der Dirigierklasse von Hans Swarowsky die Musik Schuberts und des eben erst für Wert befundenen Mahler nach Italien brachte. Und drittens mit seinem unerhörten Einsatz für die heimische Moderne, mit seinem Freund Luigi Nono an der Spitze.

Mögen die Jahre beim London Symphony Orchestra (1972-88) und an der Wiener Staatsoper (1986-91) nicht immer glücklich gewesen sein, besonders die konservative Donaumetropole zehrt mit dem von ihm 1988 begründeten Festival "Wien Modern" noch heute von ihnen. Und die zwölf Jahre von 1990 bis 2002 als überraschender Chef der Berliner Philharmoniker und Nachfolgern des so ganz anders gearteten Herbert von Karajan haben diese Lebensleistung zu einem eindrucksvollen Resümee vereint. Seine langjährigen Präferenzen gipfelten in den synergetischen Themen-Zyklen. Doch daneben brach sich auch wieder der "deutsche" Dirigent der Musik Beethovens, Mendelssohns, Brahms', weniger Mozarts und Bruckners, Bahn, grüblerisch und doch triumphal, ausschweifend und zurückgenommen, so einleuchtend wie aufregend.

Abbados Nachfolger Simon Rattle hat dem vorerst neben Eloquenz und Allertheit sowie einem verstärkten Bemühen um die ganz jungen Publikumsschichten vor allem einen geschärfteren Sinn für die Wirklichkeit entgegenzusetzen. Claudio Abbado aber erwarten wir froh gestimmt vom 14. August an mit Debussy und Wagner, Bach und Mahler am Pult eines - natürlich - neuen Klangkörpers: dem aus Freunden und Weggefährten zusammengestellten Lucerne Festival Orchestra.

Artikel erschienen am 26. Jun 2003