Zum Abbados Geburtstag, ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung

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Claudio Abbados Geburtstag

Süddeutsche Zeitung

Süddeutsche Zeitung , 26.Juni 2003

Lob des Verschwiegenen
Claudio Abbado zum siebzigsten Geburtstag



Das Abschiedskonzert in der Berliner Philharmonie ist noch in lebhafter Erinnerung: Hölderlins „Schicksalslied“ von Brahms, die fünf Rückert-Lieder Mahlers und, als Hauptwerk, Schostakowitschs Filmmusik zu Shakespeares „Lear“ als Konzert-Suite, mit Projektionen des Stummfilms von Grigori Kosinzew. Ein von Claudio Abbado „komponiertes“ Konzert, eine Stückfolge reichhaltiger Textbezüge, wie sie Abbados dezidiert musikalisch- literarischen Vorlieben entsprechen.

Die letzten beiden Jahre in Berlin waren zu etwas Besonderem geworden, nachdem der Künstler in einer dramatischen Existenzkrise sich erfolgreich gegen die Krebserkrankung gestemmt hatte – mit Hilfe einer Energie, die ihm durch die Musik zuwuchs. Wagner- und Verdi-Sternstunden waren plötzlich an der Tagesordnung, in Berlin und bei den Salzburger Osterfestspielen: „Tristan und Isolde“ und „Parsifal“, „Simon Boccanegra“, „Falstaff“ und das Verdi-Requiem, der Beethoven-Symphonien-Zyklus – da beflügelte einer seine Musikerkollegen mit wunderbar ausschwingenden, rhythmisch pulsierenden Gesten, mit Intuition für Klangfarben und weite Bögen. So sorgfältig sich Abbado in der Vorbereitungsphase mit den Partituren befasst hatte, so kompromisslos klar und großzügig die Qualitäten solchen Musizierens, so tiefgreifend die Wirkung.

Was sagt schon Abbados Berliner Statistik über den Wert seiner Arbeit! 1990 bis 2002 dirigierte er 582 Mal die Philharmoniker. Was sagen die Lebensstationen über die künstlerischen Motive und Impulse, die Abbado geben konnte und kann: Von Mailand, der Geburts- und Kindheitsstadt, geht es nach Wien, zum Studium bei Hans Swarowsky. Der Schritt wird zurück nach Mailand gelenkt: Musikchef des Teatro alla Scala. Dann Chefdirigent des London Symphony Orchestra, doch Wien setzt sich als geistige Wahlheimat durch, als Abbado 1986 Musikdirektor der Staatsoper wird. Hier wird er musikpolitisch aktiv, beginnt er mit dem Festival „Wien modern“ und seiner Nachwuchsarbeit (Gründung des Gustav-Mahler-Jugendorchesters, später des Mahler Chamber Orchestra). Endlich Berlin: Karajan-Nachfolge, direkt nach dem Mauerfall. Der Rückzug schließlich von dort: überlegt, freimütig, freundschaftlich.

Was sagt all das über das Musizieren eines Dirigenten, der, bei aller Unruhe des Reisens, der Plattenproduktionen sein ruhig-konzentriertes Wesen verteidigt hat. Kaum zu glauben, dass ein Künstler seiner Art etwa einen so starken Internetauftritt für nötig hält. Da „blättert“ man zwischen Biographie, Konzert-, CD-Listen, Dossiers, Kritiken und stößt plötzlich auf etwas eher Befremdliches. Will das überhaupt passen: die Homepage einer italienischen Abbado-Fangemeinde: „Club Abbadiani Itineranti“ (Klub der fahrenden Abbadianer). Die Leute beschäftigen sich seit rund zwanzig Jahren damit, dem Maestro, der sich in Italien rar gemacht hat, nachzureisen, um seine Konzerte zu hören. Es gibt eine Mitteilung der fahrenden „Abbadiani“-Gesellen, die sie selbst, aber genauso ihren Helden, der zum gewöhnlichen Heros kaum taugt, trefflich charakterisiert: „Eine der von Claudio Abbado gegebenen Lektionen besteht darin, dass es keine Kultur gibt, wenn es nicht einen ständigen Blick auf die Entwicklungen in der Welt gibt; wenn es kein Interesse für alle Formen von Kultur gibt; wenn es keine Öffnung zum Anderen gibt; wenn es keine Infragestellung aller Gewissheiten gibt.“ Da ist es: das Glaubensbekenntnis über die Grenzen der Musik hinaus, wie es sich aus der Offenheit Abbados, seinem weiten Blick und aus der Freundschaft mit Luigi Nono herausgebildet hat.

Kaum zu glauben der Gedanke, dass ein so jung wirkender, wach und neugierig gebliebener Künstler jetzt siebzig Jahre sein wird. Der nach dem Rückzug aus Berlin auf Sardinien oder im Engadin lebt. Und erst im Juni 2004 zu den Berliner Philharmonikern zurückkehren wird – mit Mahlers sechster Symphonie. Bis dahin – und im Moment schon mit voller Kraft voraus – wird Abbado in Luzern zum ersten Mal das ihm versprochene Festspielorchester dirigieren. Drei Konzerte sind für Mitte August geplant: ein Programm mit Wagner und Debussy, eines mit Bachs Brandenburgischen Konzerten, schließlich Mahlers zweite Symphonie. Toscanini und de Sabata waren hier zu Hause, wo jetzt Abbado neu ansetzt. Die musikalische Welt wünscht sich und ihm con passione viele Jahre der Gesundheit, der großen Musik.

WOLFGANG SCHREIBER