ABBADO UND DIE PRESSE

BERLINER ZEITUNG
5 Mai 2004

Frank Martin
Sechs Monologe aus »Jedermann« in der Fassung für Bariton und Orchester
(1949)

Thomas Quasthoff, Bariton

Gustav Mahler
Symphonie n°6

Berliner Philharmoniker
CLAUDIO ABBADO

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Cordula Groth

















































 


Die Wiederkehr des alten Königs

Zwei Jahre nach dem Abschied wurden Claudio Abbado und die Philharmoniker mit Jubel überhäuft

Als Simon Rattle vor zwei Jahren die künstlerische Leitung der Berliner Philharmoniker übernahm, sollte alles anders werden, und gerade auch der mittlerweile unrühmlich abgetretene Intendant Franz X. Ohnesorg schürte große Erwartungen. Was davon in Erfüllung gegangen ist, was angesichts der Erwartungen überhaupt in Erfüllung gehen konnte, sei dahingestellt. Als der Vorverkauf für drei Konzerte unter der Leitung von Rattles Vorgänger Claudio Abbado begann, waren die Karten jedenfalls im Handumdrehen ausverkauft, und als Abbado am Donnerstag in der Philharmonie zum Podium schritt, ging er einer Begeisterung entgegen, die Künstler sonst und bestenfalls erst nach ihren Leistungen in Empfang nehmen dürfen: Bravos und Beifall ohne Grenzen.

Auch hier also gewaltige Erwartungen. Abbado trieb sie zusätzlich an, indem er Mahlers Sechste auf's Programm setzte. Denn Abbados Mahler-Interpretationen waren schon legendär, als er noch Chefdirigent des Orchesters war; der Abend war damit als Wiederkehr des alten Königs geradezu übermarkiert und unter entsprechenden Druck gesetzt, schillernd zwischen Geistererscheinung und Qualitätsprodukt.

Natürlich stellte sich jener wundersam belebte Klang immer wieder ein, wie er durch die geheimnisvolle und nur Abbado eigene Gleichzeitigkeit von Steuerung und Laufenlassen der Musiker wie absichtslos entsteht. Zu Rattles genau dosierten, zielgenau kalkulierten und mehr fantasievoll als stringent verteilten Klangsensationen, denen auf diese Weise Lebendigkeit mehr injiziert wird, als dass sie ihr Wesen ausmachte, bildet er das Gegenteil.

Allerdings ist die Sechste vielleicht die Mahler-Partitur, die am wenigsten Ansatzpunkte für den besonderen interpretatorischen Charakter Abbados aufweist - das liegt an ihrer vergleichsweise homofonen Struktur, dem beherrschenden Marschgestus, dem weniger auf Welthaltigkeit, sondern vor allem auf Massenwirkung zielenden Umgang mit dem riesigen Orchester. Abbados Stärke zeigte sich dagegen darin am besten, wie er die Musik dezentralisiert und aus dem Fluss der subtil beleuchteten, aufeinander bezogenen Details entwickelt.

In den Tutti-Passagen - und bestimmt zwei Drittel der Sinfonie beschäftigen das volle Orchester - zielt Abbado nun auf einen Klang von mauerstürzender Massivität und beängstigendem Volumen. Den Marschtritt des Kopfsatzes, das "Schwungvoll" seines zweiten Themas: Besser kann man das nicht musizieren. Und doch wartet man auf einen persönlichen Beitrag, auf das, was nur dieser Dirigent kann. Zu Beginn der Durchführung scheint es sich anzukündigen, wenn der geschlossene Klangblock des Marsches in verschiedene Gestalten zerfällt, die Abbado extrem unterschiedlich profiliert. Doch vom nächsten Tutti wird dieser Ansatz leider sogleich überfahren, seine Anreicherung mit der neu hinzugekommenen Triller-Motivik bedeutet für den Marschgestus nichts.

Gewiss bewährt sich auch dort, wo der Ansatz fragwürdig sein mag, Abbados Ausnahmerang. Das Andante moderato nimmt er kaum langsamer als Eliahu Inbal und das Berliner Sinfonie-Orchester vor einigen Wochen im Konzerthaus. Wie bei Inbal erscheint der Satz unter Wert verkauft. Doch ist das Ineinandergreifen der Instrumente unter Abbado von einer Zartheit, bewahrt noch das eilig Fließende eine aussingende Ruhe, von der Inbals lieblose Darstellung nichts ahnte.

Freilich sind das Dinge, die bei aller Schönheit Abbado dank seines Temperaments zufallen, als Resultat einer individuellen Arbeit am Werk erscheinen sie nicht. So liegt über der Darstellung ein leichter Film des nicht vollständig Anverwandelten. Und dieser Eindruck von Distanz verstärkt sich noch angesichts von Abbados Entscheidung, die Mittelsätze umzustellen, das Andante vor dem Scherzo zu spielen. Die Gesamtarchitektur verliert so an Stringenz: Die Substanzgemeinschaft zwischen Kopfsatz und Scherzo wird undeutlich, das Gleichgewicht der Spieldauern zwischen Kopfsatz und Scherzo einerseits und dem Finale andererseits, das dem Andante eine zentrale Stellung zuweist, wird gestört. Das Andante an zweiter Stelle wird zum Intermezzo - insofern ist Abbados rasches Tempo konsequent - als sollte es darum gehen die Sinfonie stärker auf das Finale auszurichten.

Tatsächlich aber nimmt das verlöschende Scherzo an vorletzter Stelle dem Aufrauschen des Finales viel von seiner Düsternis. Der einzige Grund für die Umstellung der Mittelsätze ist sachfremd: Mahler selbst hat das Werk so aufgeführt, entgegen der Anordnung im Erstdruck. Zwingende musikalische Gründe für die Reihenfolge des Erstdrucks werden hier durch die bezeugte Tat des Komponisten außer Kraft gesetzt, mag sie auch noch so fragwürdig sein.

So großartig vieles gelang und klang, so wenig lässt sich eine gewisse Enttäuschung über den Mangel an spezifischem Zugriff leugnen - nicht auszuschließen übrigens, dass sich Abbados ureigener Ton dem Werk in den folgenden Aufführungen am Freitag und Samstag wesentlich deutlicher einprägt, wenn das Orchester wieder unmittelbar auf seine Leitung in ihrer gesamten Differenzierungskraft reagiert, statt in der Erinnerung an das früher erlebte unter ihm zu spielen.

Das Orchester dankte dem ehemaligen Chefdirigenten kaum weniger nachdrücklich als das binnen kürzester Zeit sich erhebende Publikum. Begonnen hatte der Applaus allerdings nach einer aufschlussreichen Panne. Gleich nach dem letzten Ton klatschten manche los, wurden von vielen niedergezischt, die damit die Stimmung noch einmal ins Andächtige zu wenden versuchten. Die wiederhergestellte Stille war allerdings unrettbar ramponiert. Die Schieflage dieses Konzerts, der Versuch, alte Zeiten zu beschwören und ins Ritual zu überführen, den sowohl Abbado mit seinem Mahler wie auch das Publikum mit seinem Willen zur Begeisterung unternahmen, wurde in diesem Moment, als sich einer frei von der Leber weg mit seinem Beifall vordrängte, peinlich deutlich.

Begonnen hatte es mit etwas anderem, etwas, von dem man sich im Schatten der Mahler-Sinfonie vielleicht nicht viel versprach, das aber dann doch den bleibenderen Eindruck hinterließ: Frank Martins "Sechs Monologe aus Jedermann". Thomas Quasthoff sang das in bewährt aufwühlender Manier und mit unanfechtbarer Phrasierungskunst, dabei überraschend klangschön. Erstaunlich aber, wie Abbado diese doch aus dem Neoklassizismus hervorgegangene und tendenziell eng gekästelte Musik zum Welttheater zu weiten wusste. So scharf umriss er die Tongestalten, dass sie sich aus dem Kontext lösten und der Fortgang der Musik auf eine neue Ebene gehoben wurde: Das war kein flüssiges, abgesichertes Motivspiel, sondern ein stoßhafter, aus klanglichen Kontrasten gefügter Verlauf von großer Individualität und eindringlicher Ausdruckskraft. Auch da, wo die Gesänge ganz geschlossen und kantabel schienen, entdeckt Abbado die Momente des Unstimmigen, Rauen. Wenn im letzten Monolog die Glorie Gottes beschworen wird mit Durakkorden des Blechs, sind die destabilisierenden Dissonanzen nicht weit, und im verröchelnden Schluss fällt der großspurige Auftritt vollends in sich zusammen. Von hier aus hätte ein Weg zu einer Mahler-Interpretation führen können, die jede Erwartung unterlaufen hätte.