ABBADO UND DIE PRESSE

 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
5 Mai 2004

Frank Martin
Sechs Monologe aus »Jedermann« in der Fassung für Bariton und Orchester
(1949)

Thomas Quasthoff, Bariton

Gustav Mahler
Symphonie n°6

Berliner Philharmoniker
CLAUDIO ABBADO

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Foto
Cordula Groth

















































 


Frei sei der Künstler!

Claudio Abbados Rückkehr zu den Berliner Philharmonikern

Am Schluss meldet sich das Schicksal unbarmherzig. Den Helden der sechsten Mahler-Symphonie bringen drei fürchterliche, krachend niedersausende Hammerschläge zur Strecke. Aber der Schöpfer des Tondramas hat den letzten, Tod bringenden Hammerschlag nach der Essener Uraufführung 1906 listig zurückgenommen . . . Als habe er dem tragischen Untergeher eine Hintertür offen halten wollen. Hatte Gustav Mahler zu Jahrhundertbeginn Angst vor der letalen Katastrophe, der brutalen Endgültigkeit des Zusammenbruchs aller Geschichte(n) des scheiternden Subjekts? Vermutlich.

Jenem zunächst ruhig lauernden, dann bedrohlicher agierenden Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker, der den riesigen Holzhammer nur zwei Mal schwingt, bei der Arbeit zuzusehen, ist fast so spannend wie dem Kino-Irrwitz in Hitchcocks ¸¸Mann, der zuviel wusste" zu folgen, wo ein Attentäter seine Tat im Konzertsaal parallel zu einer so erhitzten Musik begeht: Beckenschlag plus Todesschuss. Die Berliner Philharmoniker jedenfalls sitzen an diesem Abend auf ihren Stuhlkanten, als ginge es für jeden von ihnen ums Leben. Was dabei entsteht, durch die glühende Intensität des Dirigenten gesteigert ins vielfach Monströse der Werkidee, ist in den Ecksätzen als ein Mahler-Klang wie aus Stahlbeton erkennbar, im Innern ausgefüllt von der vibrierenden Komplexität heftig widerstreitender, dissonant sich reibender Themen, Klänge und Klangmischungen.

Das bezwungene Schicksal

Es ist schon ein besonderer Moment, dass - und wie! - Claudio Abbado nach zwei Jahren zurückgekehrt ist zu seinem alten Orchester, das er zwölf Jahre lang führte. Zu seinem Publikum, das ihn verehrt, liebt. Jeder kann das spüren.

So schwingt in der Luft der ausverkauften Philharmonie an dem Abend Manches mit. Auch die Vermutung: Mahlers knallhartes Tonsymbol in seiner ¸¸Schicksalssymphonie" muss hier mehr bedeuten - auch Abbado selbst blieb der letzte Hammerschlag erspart. Der Dirigent beteuert auch jetzt wieder, dass die Musik es gewesen sei, die ihm bei aller schweren Krankheit das Leben erhalten habe. Der Siebzigjährige, wieder agil, spannkräftig, eigentlich alterslos auf dem Podium die Musiker beflügelnd, hat in den vergangenen zwei Jahren seine Kräfte gründlich regeneriert, beispielsweise in der Natur der Schweizer Berge oder Sardiniens. Und er hat sich wieder der alten Leidenschaft zugewendet, seiner wohl für alle Musikfreunde nützlichen Zuneigung zum Orchesternachwuchs. So kam es nach dem märchenhaften Projekt des für Abbado geschaffenen Luzerner Festivalorchesters letzten Sommer (das bald wieder aufgenommen wird) im Frühjahr zu einer Wiederbegegnung mit dem einst von ihm gegründeten Mahler-Jugendorchester, inklusive einer kleinen Reise mit ihm von Italien nach Budapest und St. Petersburg.

Was noch immer beeindruckt: Da steht ein Künstler am Pult, der frei ist - anscheinend ohne ¸¸Altersstil". Der zwischen sich, die Musiker und die Musik keinen Spalt breit etwas ablenkend Störendes zulässt. Darin liegt Abbados unangreifbare Autorität heute. Er scheint vollkommen bei sich zu sein, frisch und wach für die Musik und alle ihre Erzählungen.

So stellt sich dieses Rückkehr-Programm als idealtypisch für Abbado und seine Lust auf die Künste dar. Fast lässt sich der Bogen spannen vom Abschiedskonzert im April 2002. Denn von BrahmsHölderlins Schicksalslied, Mahlers Rückert-Liedern und der Lear-Filmmusik-Tragödie Schostakowitschs führt ein Weg zum neuen Berliner Programm: Das Stimme und Klang gewordene Sterben des Reichen Mannes in Frank Martins sechs ¸¸Monologen aus Jedermann", auf Texte des Hofmannsthal-Dramas, wird zum Ausgangspunkt für die Menschheitsdämmerung in Mahlers sechster Symphonie. Dem erschütternd ausdrucksdichten Jedermann-Poème schenkte Thomas Quasthoff, gerade in Wien durch den Amfortas-Schmerz im ¸¸Parsifal" gegangen, seine reife Gestaltungskunst.

Hat der Dirigent sich auf das neuerliche Berlin-Konzert durch Konzentration, durch musikalische und literarische Gedankenarbeit vorbereitet, so das ständig sich verjüngende Orchester durch seine rastlos-vielfältigen Aktivitäten. Mit Simon Rattle arbeitet man nicht nur an der Steigerung von Spielqualität, Klang- und Repertoire-Erweiterung, sondern mit Volldampf an der music education junger Generationen. Und hat dabei die Abbado-Lektion nicht vergessen.

Die Mahler-Aufführung macht das - und das Stück - eindringlich und plastisch, all das, was Schönberg in den Ecksätzen als ¸¸schmerzzerwühlte Zerrissenheit" erkannte, was im Lyrischen Mahlers Sehnsucht nach Natur, Liebe, Entgrenzung bedeutet. Einmal mehr wird der Wiener in dem Italiener Abbado erkennbar - das, was er dem Geist der Wiener Kultur eines Mahler, Schönberg, Musil, Freud verdankt, seinem Lehrer Swarowsky. So bleibt bei aller Härtung der musikalischen Struktur der Klangduktus so geschmeidig wie der Bewegungsrhythmus eines Dirigenten, dessen linke Hand noch immer unvergleichlich den Legato-Zusammenhang allen Musizierens einfordert, nachzeichnet, das freie Strömen der Musik.

Nach der Generalprobe hatte Berlins Regierender Bürgermeister dem Künstler im Roten Rathaus die Ernst-Reuter-Plakette verliehen. Abbado, Freund ökologischer Vernunft, bedankte sich mit dem neuen Buch von Jeremy Rifkin über die ¸¸H2-Revolution", das er Klaus Wowereit in die Hand drückte. Kaum überraschend, dass er Ende des Jahres seine Jugendorchesterarbeit in Venezuela und auf Kuba fortsetzen will . . . Die Begeisterung in der Philharmonie kannte kaum Grenzen, und Berlins Philharmoniker überschütteten Claudio Abbado mit Beifall.
WOLFGANG SCHREIBER