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herum...
15.08.2004
Blitzschlag im Herzgebirge
Claudio Abbado deutet Wagners „Tristan“ beim Lucerne Festival als Hörspiel
Von Frederik Hanssen
Einfach das machen, wozu man wirklich Lust hat! Alle Verträge aufkündigen, alle gesellschaftlichen Verpflichtungen abstreifen! Frei sein und der inneren Stimme folgen! Claudio Abbado hat diesen Traum in die Tat umgesetzt. Der Magenkrebs, der den Dirigenten um die Jahrtausendwende fast umgebracht hätte, hat diesen Schritt erzwungen. „Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!, und einen Herbst zu reifen Gesange mir“, mögen Abbado damals die Worte seines Lieblingsdichters Hölderlin durch den Kopf gegangen sein. Er hat die Krankheit überlebt, gerade wie er oft betont, mit Hilfe der Musik.
Seitdem hat der Italiener sein Arbeitsideal, Kammermusik mit Freunden zu machen, zur Maxime erhoben. Die Auftritte, die sich Abbado pro Jahr noch zumutet, sind fast an zwei Händen abzuzählen. Die Intensität, die jedes seiner Konzerte erreicht, untermauert aber stets aufs Neue die Richtigkeit, die Wichtigkeit seiner Entscheidung. Abbados Rückkehr im Juni nach Berlin, zu „seinen“ Philharmonikern, war ein Triumph, die Sternstunde eines Musizierverständnisses, das auf dem Prinzip des Aufeinander-Hörens fußt und das Publikum mit einbezieht als nach-vollziehender Mitspieler, als Resonanzraum des Dialogisierens auf der Bühne.
Seinen größten Wunsch konnte sich der Maestro im vergangenen Jahr in Luzern erfüllen. Beim Sommerfestival am Vierwaldstättersee gründete er mit seinen Musikerfreunden vom Mahler Chamber Orchestra, von den Wiener und Berliner Philharmonikern, vom Hagen Quartett sowie mit internationalen Solisten wie Sabine Meyer, Natalia Gutman, Kolja Blacher oder Reinhold Friedrich ein neues Orchester. Für drei Jahre hat sich Abbado verpflichtet, im August hier exklusiv mit dem Lucerne Festival Orchestra zu arbeiten. Und so gab es auch an diesem Wochenende wieder ein concert de gala zu Ticketpreisen bis 390 Schweizer Franken.
Wie kostbar inzwischen jeder Abbado-Auftritt ist, lässt sich aber nicht in Zahlen ausdrücken, sondern nur in Sekunden. Die Stille nach dem Schluss, der Nachhall der finalen Töne im Saal, war dem Interpreten Abbado stets besonders wichtig. Und in Jean Nouvels exquisitem Luzerner Konzerthaus dauerte es nach Richard Strauss' „Vier letzten Liedern“ genau diese kleine, kostbare Ewigkeit, bis sich die ersten Hände rührten.
Ein derart konzentriertes Publikum ist wahrlich selten zu erleben. Eine so hellhörig nach innen lauschende Interpretation des Strauss'schen opus ultimum allerdings auch, bei der die Sängerin Renée Fleming alles Solistische ablegt und mit dem Orchesterklang verschmilzt. Zu Nebenfiguren wurden auch die Darsteller im anschließenden zweiten Akt aus Wagners „Tristan“: Was macht es, wenn Violeta Urmana als Isolde blass bleibt, wenn John Treleaven als Titelheld viele hässliche Töne produziert alles Wesentliche passiert sowieso im Orchester. In dieser Interpretation hat das Auge einmal Pause, aller Sinnenreiz richtet sich ausschließlich an jenes Wahrnehmungsorgan, das im Alltag viel zu oft überstimmt wird: das Ohr. Es sind Hörspiele, die hier entstehen. Duftig leicht die Anfangsszene mit der sich entfernenden Jägermeute, allein mit Klangfarben so filigran gezeichnet wie ein Jugendstil-Rankenwerk von William Morris. Anrührender, realistischer als von Sängern überhaupt physisch zu bewerkstelligen, die Atemlosigkeit des Paares beim Wiedersehen. Ein Blitzschlag im Herzgebirge, wenn die Liebesnacht jäh endet, König Marke (tief bewegend: René Pape) seine Gemahlin in flagranti erwischt.
Claudio Abbado hat im geduldigen Partiturstudium das Geheimnis der Töne ergründet und führt nun die Komponenten vor, die das Narkotikum dieses zweiten „Tristan“-Aktes bilden. So eine Entschlüsselung der Zauberformel funktioniert aber nur dann ohne Schaden, wenn jedes Instrument, jeder einzelne Spieler in der Lage ist, charakterlich autonom zu bleiben und gleichzeitig seine Stimme in den Gesamtklang des Ensembles respektvoll einzubringen. Das Ergebnis ist gelebte Demokratie, wie sie derzeit wohl nur mit diesem Orchester, mit diesem Dirigenten, an diesem Ort, Wirklichkeit werden kann. Uneingeschränkte Aufmerksamkeit ist die Dankbarkeit dessen, der in der Dunkelheit des Zuschauerraums dabei sein darf.
arte sendet am 12.9. eine Aufzeichnung der Strauss-Lieder, am 19.9. den zweiten „Tristan“-Akt.
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