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Traum vom Musizieren
Claudio Abbado und sein neues Luzerner Festival-Orchester
Der Vergleich mit dem Fußball liegt nahe: Man nimmt ein paar millionenschwere Artisten, und der Trainer formt daraus eine Mannschaft der Spitzenklasse Meisterschaft und Champions League nicht garantiert. Ähnliche Illusion: Ein Dirigent und ein Festivalintendant laden internationale Spitzenmusiker ein und bauen ein Symphonieorchester von Ausnahmerang. In der Hoffnung, dass da in vierzehn Tagen etwas zur Geistes- und Klanghomogenität, zur Harmonie zusammen wächst. Ein Risiko, denn das künstlerische Ergebnis der Aktion Claudio Abbado, der Siebzigjährige, gründet sein „Lucerne Festival Orchestra“ war durchaus nicht vorhersehbar. Aber danach ist man immer schlauer, denn in Jean Nouvels Luzerner Kongress- und Festspielhaus direkt am Wasser des Vierwaldstätter Sees ging jetzt tatsächlich ein Traum in Erfüllung, der Wunsch nach dem idealen Musizieren. Zumal auch für die aus allen Himmelsrichtungen angereisten Musiker.
Für den Dirigenten mag dies tatsächlich das Traumprojekt seiner späten Epoche sein, nachdem er vor mehr als einem Jahr das letzte Konzert als Chef der Berliner Philharmoniker absolviert hatte mit Mahlers Weltschmerz, mit Glanz und Gloria und wehmütigen Gedanken und Gefühlen im Orchester, eigentlich in der ganzen Musikszene, nicht nur Berlins. Da liefen aber die Vorbereitungen Abbados und des Luzerner Festspielintendanten Michael Häfliger längst auf Hochtouren in der erklärten Absicht, dort ein neues Orchester auf die Beine zu stellen für Musiker, die von Spielroutine und von Orchesterdienstplänen frei sind, die nicht an Geld und Gage denken, sondern nur an die Musik selbst, ans Musizieren.
Ein Dirigent fasziniert
Das bringt nur ein Dirigent zustande, der selbst hartgesottene Profimusiker unmittelbar zu faszinieren versteht. Der sie in ihrer Künstlerseele dergestalt anrührt, dass sie ihm diese sozusagen blind überantworten wollen. Claudio Abbado ist wahrscheinlich der einzige Dirigent heute, dem dies gelingen kann mit seiner Fähigkeit, Musiker für eine hochfliegende Idee einzunehmen: für die Idee der musikalischen Freiheit, einer freien, in Freundschaft hervorgebrachten Musik, und das heißt einer musikalischen Spielqualität, die an die Kammermusikpraxis heranreicht. Es ist die Idee nicht mehr des musikalischen Befehlens und Gehorchens, des Drucks und gegenseitigen Misstrauens, sondern eines mit Risiko behafteten Sich-Öffnens, des umfassenden Aufeinander-Hörens im Augenblick des Spiels, der Entstehung von Musik.
Abbado und der Festspielintendant hatten für ihren Plan ein historisches Vorbild: Arturo Toscanini und die Luzerner Jahre ab 1938. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland stellte man in Luzern ein Eliteorchester für den italienischen Dirigenten zusammen, der bei den „angeschlossenen“ Salzburger Festspielen sich moralisch ausgeschlossen sah. Mitglieder des legendären Streichquartetts um den deutschen Geiger Adolf Busch wurden dort zu Stimmführern der Streichergruppe eines neuen Schweizer Festspielorchesters, das dann auch von Furtwängler, Karajan und Ansermet, von Bruno Walter und Rafael Kubelik dirigiert wurde und bis 1993 Bestand hatte. Mit einem Concert de Gala vor Wagners Villa im Luzern benachbarten Tribschen, wo er das Siegfried-Idyll dirigierte hatten Toscanini und die Seinen damals das Projekt gestartet.
Auch Abbado eröffnete jetzt mit einem solchen Gala-Konzert und stellte an dessen Beginn, als Schmerzensmahnmal des Gedenkens, ebenfalls Richard Wagner, Wotans Abschied aus der „Walküre“, gesungen von Bryn Terfel. Im übrigen hat Abbado die Struktur des neuen Festspielorchesters ähnlich gestaltet wie Vorgänger Toscanini. Was diesem das Busch-Quartett war, ist ihm das Salzburger Hagen-Quartett. Und zum Kern des neuen Orchesters zählen die Klarinettistin Sabine Meyer und deren Bläser-Ensemble ebenso wie das Mahler Chamber Orchestra, das aus Abbados Gustav-Mahler-Jugendorchester hervorging.
Der Idee des Dirigenten folgten dann einige der Getreuesten seiner Berliner Philharmoniker, beispielsweise Solo-Cellist Georg Faust und dessen ehemaliger Bratschen-Kollege Wolfram Christ, ferner der Flötist Emanuel Pahud. Sodann der Trompeter Reinhold Friedrich, der gleich sechs seiner Schüler mitbrachte, und last not least die russische Cellistin Natalia Gutman. Solch hochkarätigen Musikern schlossen sich, von Abbado herzlich eingeladen, Kollegen anderer Orchester an: Mitglieder der Wiener und Münchner Philharmoniker, des Gewandhausorchesters, der Sächsischen Staatskapelle, des Deutschen Symphonieorchesters Berlin, der Bamberger Symphoniker. Man opferte vierzehn Tage Ferien für die (harte) Arbeit mit „Claudio“.
Es entstand in Luzern so etwas wie ein Familiengefühl musikalischen Gebens und Nehmens neues Spiel, neues Glück für Musiker, die eigentlich nichts mehr erschüttern kann. Viele von ihnen waren überzeugt vom einzigartigen Elan solchen Musizierens, jemand sagte, er fühle sich auf dem Podium wie in Trance, ein anderer wollte sich seiner Tränen beim Musizieren nicht geschämt haben. Ein Hauptmotiv einte alle: „Wir sind hier für Claudio Abbado“. Die tiefe Verbundenheit dieser Musiker mit dem Dirigenten kam in Gesprächen immer wieder zum Ausdruck.
Sein Geheimnis? Noch vor der Dirigentenkarriere war Claudio Abbado Kammermusiklehrer am Konservatorium in Parma gewesen. Er hatte das Musizieren im Freundeskreis von Kind auf, in seiner Mailänder Familie aus lauter Musikern, kennen gelernt. Und so blieb das gegenseitige Aufeinanderhören auch von Musikern großer Orchester für ihn das musikalisch Höchste. Vielleicht liegt es hier, das Geheimnis von Abbados unwiderstehlicher Anziehungskraft auf Orchestermusiker, denn mit der Idee der Kammermusik trifft er jene sozusagen mitten ins Herz, die sich selbst der kammermusikalischen Feinmechanik und Differenzierungskunst ergeben haben es sind die Besten. Abbado wird gewiss einmal als jener Dirigent in die Musikinterpretationsgeschichte eingehen, der am konsequentesten den musikalischen Nachwuchs gefördert hat Gründervater ist er vieler Jugendorchester. Und hierin, in der Praxis des gegenseitigen Austauschs, liegt auch das Geheimnis dieses außergewöhnlichen Festivalorchesters: dass in ihm die Jungen und die Älteren, die noch unverbrauchten und die erfahrenen Musiker zusammen fühlen und zusammenspielen.
Musik der Dringlichkeit
In diesem Sinne war in Luzern ein Idealorchester versammelt. Die Resultate, die Konzerte unter Abbados Leitung, gehören zum Dringlichsten, das ein abgebrühter Gewohnheitshörer vernehmen kann. Es wurden zwei große symphonische Programme absolviert, neben Wagner, Debussys „La mer“ und einer „Martyre“-Suite Mahlers Zweite, daneben Kammermusik von Schumann, Brahms, Mendelssohn und Schostakowitsch, sogar Bachs sämtliche Brandenburgischen Konzerte in kleiner Besetzung, stilistisch historischer Aufführungspraxis zugeneigt, von Abbado dirigiert mit Schwerelosigkeit und polyphoner Eleganz, raschen Tempi, im Klang schwebend-transparent. Mahlers Zweite habe ich so inspiriert, so bewegend noch nicht gehört, so expressiv durchgearbeitet in den Stimmen, aufgeladen und gleichzeitig durchhörbar gehalten in den Linien und Bedeutungsschichten einer tiefreligiös-symbolistischen Kunst (großartig Anna Larsons Altsolo). Abbado und seine Orchesterfreunde gaben das Letzte an Kraft, das Höchste ihrer Kunstbereitschaft. Wagner und Mahler bleiben die Vorzugskomponisten des neuen Luzerner Festspiel-Orchesters auch im nächsten Jahr. Mit dem zweiten „Tristan“-Akt und der fünften Symphonie unter Claudio Abbado.
WOLFGANG SCHREIBER
Filmreihe
«Claudio Abbado»
15. - 19. August 2003
Im Rahmen der Kulturpartnerschaft LUCERNE FESTIVAL-ARTE werden im Rahmen von SOMMER 2003 und anlässlich des 70. Geburtstages von Claudio Abbado vier Filme über und mit dem Chef des LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA gezeigt.
Zwei der Filme (17. und 19.8.) werden in Luzern exklusiv als Avant-Première vor der Erstausstrahlung im Kulturkanal ARTE präsentiert.
Freier Eintritt
Freitag, 15. August, 22.00 Uhr
Kleiner Saal
Abbado Nono Pollini: Eine Kielspur im Meer
Ein Film von Bettina Erhardt und Wolfgang Schreiber
(BCE Film, 2000, 60')
Samstag, 16. August, 21.00 Uhr
Kleiner Saal
Europakonzert vom 1. Mai 2002 im Teatro Massimo, Palermo
Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado, Gil Shaham, Violine
Werke von Beethoven, Brahms, Dvorak, Verdi
TV-Regie: Bob Coles; Produzent: Paul Smaczny
(NHK/VIDEAL/brilliant media)
Sonntag, 17. August, 21.00 Uhr Kleiner Saal
Claudio Abbado dirigiert Schubert I (2002)
Konzert zum 21. Jubiläum des Chamber Orchestra of Europe in der Cité de la musique Paris am 25.5.2002
Anne Sofie von Otter, COE, Claudio Abbado
TV-Regie: Andy Sommer
(ARTE France/Bel Air Media)
(40')
Dienstag, 19. August, 18.00 Uhr, Kleiner Saal
Claudio Abbado dirigiert Schubert II (2002)
Konzert zum 21. Jubiläum des Chamber Orchestra of Europe in der Cité de la musique Paris am 28.5.2002
Thomas Quasthof, COE, Claudio Abbado
TV-Regie: Andy Sommer
(ARTE France/Bel Air Media)
(40')
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