ABBADO IN
BADEN-BADEN

DIE ZEIT


Claus Spahn



























































































 


Mozarts lange Schatten

Die Dirigenten Claudio Abbado, Nikolaus Harnoncourt und René Jacobs suchen die Todesnähe in der »Zauberflöte« und Mozarts Jugendoper »Lucio Silla«

Von Claus Spahn

Im Gewirr der engen Gassen hinter dem Stephansdom steht die wichtigste Mozart-Gedenkstätte Wiens, das so genannte Figaro-Haus, in dem der Komponist zweieinhalb Jahre von September 1784 bis April 1787 gelebt hat. In der geräumigen Wohnungverbrachte er seine erfolgreichsten Wiener Jahre. Dort entstand Le Nozze di Figaro, üppige Konzerteinnahmen ermöglichten ihm einen gehobenen Lebensstil, Haydn schaute zum Streichquartettspiel vorbei, und im Billardzimmer klackten die Kugeln. Das Haus in der Schulerstraße gehört zu den wenigen Lebensorten Mozarts, die heute noch erhalten sind. Wer es in diesen Tagen besuchen will,findet eine Baustelle vor. Die Türen sind verschlossen, die Fassade ist eingerüstet, und vor dem Gerüst hängt eine Plastikplane,auf der eine aufgemalte historische Hausfassade zu sehen ist. Patricia Petibon (l.) singt die Giunia im Wiener "Lucio Silla"© Armin BardelBILD

Der Zustand des Figarohauses, das im kommenden Januar pünktlich zu Mozarts 250. Geburtstag wiedereröffnet werden soll, erscheint wie ein Sinnbild für den gegenwärtigen Stand der Bemühungen um das bedrohlich spektakuläre Mozart-Jubiläum: Noch drehen sichdie Betonmischmaschinen und lassen nur erahnen, welcher Aufwand für das Gedenkjahr 2006 betrieben wird. Es ist nicht zu erkennen, ob an dem Wiener Mozart-Haus (wie am Mozart-Bild generell) nur Schönheitsreparaturen vorgenommen werden, ob eine Entkernung samt Generalsanierung in Auftrag gegeben wurde oder sogar ein schicker Neubau entsteht im Stile von einst. In jedem Fall ist derBlick auf das Authentische verstellt durch die Renovierungsarbeiten am Mythos. Zum Trost knattert eine Plastikplane als Banner des Kitschs im Wind. So erging es Mozart eigentlich immer.

Das letzte Gedenkjahr, 1991 zum 200. Todestag, war eine Katastrophe. Der Kommerz und Hollywood-Missverständnisse triumphierten. Die bleibenden Symbole waren die Mozartkugel, der Mozart-Likör und die verschnörkelte Mozart-Tasse. Damals machte unter den Künstlern der Spruch die Runde, dass es das Beste wäre, man würde zum Mozart-Jubiläum gar nichts von Mozart aufführen.Aber natürlich sind ihre Terminkalender auch für 2006 schon wieder voll und die Koffer gepackt für den großen Aufbruch in das Unvermeidliche. Ob es dieses Mal besser wird? Ob sich die Blickwinkel verschoben haben?

Die ersten Expeditionen sind bereits unterwegs. Sie wollen sicher gehen, dass ihnen die Jubiläumsmeute bei ihren Mozart-Erkundungen nicht im Weg steht. Hochkarätig besetzt sind sie alle, und mit Pauschalreisen auf ausgetretenen Pfaden geben sie sich nicht zufrieden: René Jacobs und der südafrikanische Künstler William Kentridge zeigen die Zauberflöte am Brüsseler Opernhaus. Nikolaus Harnoncourt und der Regisseur Claus Guth widmen sich im Theater an der Wien Mozarts Jugendoper Lucio Silla, und in Baden-Baden dirigiert Claudio Abbado ebenfalls eine Zauberflöte – zum ersten Mal in seiner Karriere.

Jacobs, Harnoncourt, Abbado – das sind drei maßgebliche Dirigenten, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen auf Mozart zugehen. René Jacobs ist der Mann der Stunde für die Interpretationen von Mozarts Opern. Seine CD-Aufnahmen gehören zu den qualitätvollsten und erfolgreichsten der letzten Jahre. Er ist den Weg gegangen, über den in den vergangenen 30 Jahren fast alle Dirigenten gekommen sind, die den Ton in den Mozart-Opern prägten – vom 18. Jahrhundert aus voranschreitend, als Exponent von Barockmusik und historischer Aufführungspraxis.

Die Vitalität des Musizierens erwächst auch bei Jacobs aus der deklamatorischen Geste und der akribisch durchgearbeiteten Artikulation bis hinein in die unscheinbarsten Nebenstimmen. Er beherzigt, was Alfred Brendel an solchem Mozart-Stil bemängelt hat:Das Gesangliche dürfe hinter dem Sprechen in Tönen nicht zurücktreten. Jacobs, ein ehemaliger Sänger, lässt den Stimmen immer den gebotenen Raum zur Entfaltung.

Bei Harnoncourt brennt das alte »Lucio Silla«-Feuer immer noch

So war es auch in der Brüsseler Zauberflöte, obwohl das Sängerensemble dort bei weitem nicht das Niveau anderer Jacobs-Produktionen hat. Der Belgier nimmt die Alla-breve-Vorschriften ernst, ringt dem gemischt auf historischen und neuen Instrumenten spielenden Orchestre Symphonique de la Monnaie einen forsch vorantreibenden Spielduktus ab – und kommt doch über Routine auf hohem Niveau nicht hinaus. Der Mozart-Stil aus dem Geist historischer Aufführungspraxis kann mit seinem Hang zu technischer Perfektionierung und Ausdrucksverfeinerung auf die Dauer eben auch zu einer Sackgasse werden. Was im Mozart-Jahr 1991 noch als Qualitätssprung gegenüber dem »apollinisch« polierten Mozart-Ideal der Generation Karl Böhms gerühmt wurde, hat sich inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt. Die historisch informierte, texttreue Ausdifferenzierung von Mozarts Dramatik kann nur mehr Voraussetzung der Interpretationen sein und nicht mehr deren erklärtes Ziel. Und die neuen Perspektiven?

Nikolaus Harnoncourt, der Mozart-Erneuerer von einst, hat mit 75 Jahren den Marsch durch die Epochen hinter sich. Man könntesagen: Er ist ein Bruckner-Dirigent, der sich an Mozart zurückerinnert. So viel Zeit nimmt er sich inzwischen für seine Interpretationen, mit so viel gespannter Ruhe überzieht er sie. Zur Eröffnung der Wiener Festwochen ist er mit seinem Concentus Musicusund einem hervorragenden Sängerensemble noch einmal an eine Brandstätte der frühen Jahre zurückgekehrt, um festzustellen: Das alte Lucio Silla-Feuer brennt noch.

Anfang der achtziger Jahre hatte Harnoncourt die Opera Seria, die Mozart mit 16 Jahren komponierte, als expressiv aufschießendes Sturm-und-Drang-Werk vorgeführt mit dem hochlodernden Bravourton der Da-Capo-Arien und knisternden Rezitativen. Von dieser Energie ist in seinem Dirigat nach wie vor viel zu spüren, aber viel mehr interessieren ihn jetzt die Schatten, die sich jenseitsder Flammen auftun: Er spürt dem rätselhaften Dunkel nach, das über dem Stück liegt, er gibt sich den grandiosen Ombra-Szenen hin und kann den Blick nicht abwenden von den gähnenden Leidenschaftsabgründen. Denn so schematisch und hölzern der junge Mozartdie Seria-Form streckenweise bedient, so unerhört bricht er mit den Konventionen, wenn die Ausweglosigkeit der Helden in Todessehnsucht umschlägt. Dann klingt schon im Lucio Silla die gespenstische Komtursphäre des Don Giovanni mit, die Requiem-Düsternis oder der Kapitolbrand von La Clemenza di Tito.

Der Regiseur Claus Guth und der Bühnenbildner Christopher Schmidt haben für diese Annäherung ein beklemmendes Verlies der Macht auf der Bühne errichtet, halb Beton-Tiefgaragengruft, halb Schlachthaus mit weißen Kacheln. Und die Handlung vom römischen Despoten Silla, der die Tochter eines Feindes gefangen hält, sie zur Heirat zwingen will und ein Mordkomplott vereitelt, verlegensie in eine Endzeitatmosphäre, in der Leichenteile aus Plastiksäcken hervorgucken und der Tyrann im Zorn mit blanken Händen in glühende Kohlen greift. Ganz schwarztragisch umschattet erscheint der junge Mozart in dieser Wiener Deutung und viel erwachsener,als das Stück vermuten lässt.

Überhaupt hat man den Eindruck, als hätten die Regisseure aller drei Produktionen sich an einer Mozart-Annäherung bei ausgeknipstem Licht versucht. In Brüssel verwendet William Kentridge bei seiner Zauberflöte die Bühne als chambre noire, als Dunkelkammer für Video-Animationen. Unentwegt entwerfen Lichtpunkte eine Strichelwelt, die Sarastros Weisheitsethos, Papagenos Tierwelt und die Gefühlsflugbahnen der Liebenden als abstrakte Skizzen in den Raum projizieren. Eine abgehobene Gedankenarbeit, die am Theateranspruch des Stücks vollkommen vorbeizielt.

Auch in Baden-Baden versucht Daniele Abbado die Zauberflöte als Nachtstück mit Puppentheater- und Zirkusdekor im schwarz-leeren Bühnenraum zu entwickeln. Vom bretterkrachenden Schikanederschen Vorstadttheater rückt er ab, von der Buntscheckigkeit und den Widersprüchen im Stück, von einer Ideologiekritik am Tugendterror im Sarastro-Tempel will er nichts wissen. Es siegtder edle Idealismus: das Humanistische und die Läuterung durch Todeserfahrung.

Claudio Abbados »Zauberflöte« klingt wie ein Lufthauch

Claudio Abbado hat sich die Zauberflöte wie auch den Parsifal und den Tristan für das Alter aufgespart. Für ihn ist sie ein philosophische Werk am Ende von Mozarts Leben, das die letzten Fragen aufwirft. Und seit er selbst nach einer schweren Krankheit die Todesnähe gespürt hat, geraten ihm alle Stück mit existenzieller Dringlichkeit, auch die Baden-Badener Zauberflöte: So leicht und selbstverständlich flüssig, mit so viel dramatischem Feingespür und musikalischer Beseeltheit der Figuren hat man das Stück wohl kaum je gehört. Mit voranstürmender Animato-Geste setzt er das Theaterschwungrad in der Ouvertüre in Gang und lässt es über alle Szenen hinweg nicht mehr erlahmen. Die Phrasierungen scheinen vor Leichtigkeit schier abzuheben und sind doch in jedem Detail und jeder Nuancierung durchgearbeitet. Sanftmütig und lichtdurchflutet ist die Klanglichkeit der Tempelszenen, die Monostatos-Arien ziehen wie ein Lufthauch vorüber. Und Paminas g-moll-Arie markiert den dunkelstenPunkt des Stücks: Wie ein Schatten, der nicht weichen wird, lässt Abbado die letzten Töne in einem betörenden Decrescendo auslaufen. Das Mahler Chamber Orchestra spielt großartig, und die jungen Sänger von Rachel Harnisch (Pamina) über Erika Miklosa (Königin der Nacht) bis zu Georg Zeppenfeld (Sarastro) haben große Mozart-Karrieren vor sich. Die Inspiriertheit dieses Abbado-Abendswird das Mozart-Jahr allemal überdauern.




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