Wien, Rom

Des Maestro Triumphe


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Claudio Abbado in Wien /a Vienna

Ein Porträt

Un ritratto: Claudio Abbado, l'intoccabile

Tagesspiegel (Berlin), 24.Feb


Claudio Abbado


Der Unberührbare

Des Maestros Triumphe: Morgen kehrt das Berliner Philharmonische Orchester von seiner Februar-Tournee zurück

Christine Lemke-Matwey


Nicht Auszudenken. Kaum auszuhalten. Trotzdem dachte es jeder, unwillkürlich - und drängten sich die Massen wie noch nie: morgens bei den Proben, abends im Konzert. Dabeisein war diesmal mehr als alles. Man hat es geahnt, gefürchtet, herbeigesehnt auch. Noch die kleinste, lässlichste Temposchwankung, jedes Aperçu in der Phrasierung, jedes Lauter und jedes Leiser, jedes Langsamer und jedes Schneller würde seismografisch notiert und zum Indiz (v)erklärt werden; Abbados Gesichter könnten sich für immer in die eigene Stirn eingraben, dieser Munch'sche Schreckensschrei, das feine sibyllinische Lächeln. Prompt platzten die Gedanken an das Ende der Musik mit lautem Getöse in jede Stille.

Dass Claudio Abbado krank ist, schwer krank, schwerst krank womöglich, weiß die Welt. Das konnte, wer wollte, mit eigenen Augen betrachten: im Fernsehen, zu Silvester oder zuletzt beim Verdi-Requiem Ende Januar. Abbado dirigiere auch anders als früher, hieß es - und seine Einspielung aller neun Beethoven-Symphonien mit den Berliner Philharmonikern im vergangenen Jahr hätte mit dem, was jetzt zuerst in Rom und dann in Wien geschah, so gut wie nichts gemein. Abbado, ein Prophet, ein Verkünder letzter Dinge - wider Willen?

Auf der Stuhlkante ganz vorn

Wer wäre darüber untröstlicher als "seine" Musiker, die es ihm (wie auch sich selbst) in den vergangenen zwölf Jahren nicht immer leicht gemacht haben. In der "Wärme des Klanges und der geistigen Virtuosität" hätten die Philharmoniker deutlich Federn gelassen, befand Der Spiegel 1998 und titulierte Abbado, rotzfrech, als "Berliner Gastarbeiter". Diese Zeiten sind vorbei. Seit ein paar Monaten, beichtet ein Geiger, säßen sie alle, ausnahmslos alle, Abend für Abend auf der Stuhlkante. Claudio zuliebe. Auf dass er an seiner, ihrer Musik wieder genese. Aus dem Mund eines Berufsmusikers klingen solche Worte pathetisch und ungebührlich sentimental - und sollen es wohl auch. Denn wie es um die Gesundheit des Maestros tatsächlich bestellt sei, wisse man nicht. Auf dem Podium, ja, da blühe er auf. Auch ginge es ihm derzeit wesentlich besser als noch zu Silvester: Da sezierte die für den Dirigenten bestimmte Kamera in der Philharmonie förmlich jede Muskelfaser, jede zuckende Sehne, jede Ader seines erschreckend abgemagerten Schädels, von schräg unten und als wolle sie karrikieren, was ohnehin fürchterlich ins Auge sprang.

Zugenommen hätte er, strahlt der Orchestervorstand. Fast zärtlich macht die Zahl von sechs Pfunden die Runde. Ein vorsichtiges Versprechen, eine Metapher, vielleicht. Vor und nach der Musik jedoch, an den freien Tagen, beim Empfang in der Residenz des Deutschen Botschafters in Rom oder beim gemeinsamen Heurigen mit den Herren Kollegen Philharmonikern aus Wien, bleibt Abbado unsichtbar. Das mag typisch sein (der Spiegel, der ihn noch nie mochte, geisselte ihn lange vor Oskar Röhlers Film, der seinerseits ein Leiden, ein großes Sterben an dieser Welt beschreibt, als den "Unberührbaren"); oder es verbirgt sich dahinter doch eine andere Metapher. Jeder Tag, so scheint es, ist neu und muss, einmal auf der Goldwaage liegend, immer wieder neu verkraftet werden. Von beiden, von allen Seiten.

Den Menschen auf den Chor-Plätzen im römischen Auditorio "Santa Cecilia" jedenfalls scheint nichts Kreatürliches fremd. Eng sitzt es sich, wo sonst der Chor steht und nun Dirigierschüler, dicke Partituren auf den Knien, das lehrreiche Tête-à-Tête mit dem Maestro suchen. Gewaltig laut kracht das Blech, bedrohlich nah fliegen die Paukenschlägel durch die Luft. Mitten in die silbern schimmernden Piani des Andante con moto aus Beethovens fünfter Sinfonie erbricht sich an diesem Morgen klagend ein Kind. Die Eltern verdrehen die Augen, wispern, trösten, hantieren erregt umher. Eine ältere Dame weint, den ganzen dritten Satz, das ganze Finale hindurch, allem überschäumenden C-Dur-Taumel zum Trotz. Oder vielmehr: seinetwegen? Ihr Italienisch ist vorzüglich, leise spricht sie und mit hartem Akzent. Eine Deutsche vielleicht oder eine andere Nordländerin, deren Biografie von jenem "Italienerlebnis" geprägt sein könnte, das eine andere, die Wahlrömerin Ingeborg Bachmann, für sich stets in Abrede gestellt hat. Hängengeblieben, ach ja, in den glorreichen 60er Jahren, Anita Ekberg im Trevi-Brunnen, dem "Zug nach Süden" für immer erlegen, la dolce dolce vita, dieses sagenumwobene "erstgeborene Land". Und jetzt, ein halbes Menschenleben später: Eingeholt, heimgeholt von Beethovens Musik. Ein Schock. Eine ungeheure Erregung. Als kehrte der Vater in die Arme der verlorenen Tochter zurück. Nicht umgekehrt.

Wüste Spekulationen, gewiss. Beobachtungen am Rande. Klischees, weiche Mythen. Musikalisch freilich läßt sich durchaus festmachen, was auf dieser Konzertreise etlichen Besuchern das Wasser in die Augen getrieben haben dürfte. Bleiben wir zunächst bei der Fünften. Dem Wabern, Glucksen und Irrlichtern des "Schicksalmotivs" bis in das besagte Jubel-Finale hinein gilt Abbados besondere Liebe und Aufmerksamkeit. Wo immer das Motiv auftaucht - und sei es in flüchtigster, gleichsam abgerissener Gestalt -, steht es prompt im Mittelpunkt, schlägt es alles andere in seinen Bann. Diese vier Töne, jenes berühmt-berüchtigte, vor tumben Ohren längst zum Klischee seiner selbst geronnene Ta-ta-ta-tam, sie sind, sagt Abbado, das Gedächtnis und das Gewissen einer sinfonischen Welt.

Und mag diese Welt am Ende auch von Triumphmärschen widerhallen, so ist das brenzelig Ungefähre, das Gespenstige, was hinter dem Willen und der Vorstellung wohnt, doch keineswegs vergeben oder vergessen. Das ist Abbados Credo, das ist, woran er in seinen lichtesten Momenten bei Beethoven unverbrüchlich glaubt - und eigentlich sind es bei ihm ja immer nur Momente, Augen-Blicke, in denen sich der Schleier lüftet, selten hält die Spannung länger vor. Eine Frage der Kraft? Eine Frage der Weltanschauung: Ruhe ist nur in der Bewegung, Bewegung nur in der Ruhe, sagt Abbado im Allegretto der Siebten und setzt an die Stelle dumpfen Brütens oder manischen Tanzens zum Tode hin ein bedächtiges, fast stockendes Schubertsches Kreisen; Steigerungen dürfen sich ruhig ins Kolossale auswachsen, gibt er im Trauermarsch der Eroica zu verstehen, solange die Emphase Bodenhaftung behält, solange sie gut geerdet bleibt - und im Rahmen der Kunst.

Erstaunlich selten richtet sich Abbados bisweilen deutlich müder, erschöpfter Blick "nach oben". Transzendenz ist ihm nichts, was entfleucht; Transzendenz meint höchste Klarheit, Deutlichkeit, ja Durchsichtigkeit. Musik ist für Menschen, nicht für Götter. Also hat sie schön zu sein.

Es ist dieser Schönheitsanspruch, diese Gelassenheit wider jede eigene Betroffenheit, die Abbados brillante, in der Tongebung mitunter gar sportlich ehrgeizige Berliner Lesart von anderen, früheren unterscheidet. Den eher ideologisch disponierten Naturen vom Schlage eines Nikolaus Harnoncourt, eines Michael Gielen oder eines John Eliot Gardiner, die bei Beethoven stets die dialektische Schraubzwinge ansetzen und einzig das Unabgegoltene irgend gelten lassen, muss er als Provokateur erscheinen, als ein chronisch harmoniesüchtiger, seltsam unzeitgemäßer Herausforderer.

Andererseits und im Blick auf die lasziv-luxuriösen Klangbilder eines Karajan, den unverwechselbar romantischen Schicksalston eines Furtwängler oder die intimen Bekenntnisse eines Carlos Kleiber will Abbado eher als Realist erscheinen, als gemäßigter Intellektueller. Der goldene Mittelweg also, der meist doch nur in gesetztem Grau verläuft und etliches an Makulatur, an sinfonischer Nähmaschinenstrecke à la Rossini in Kauf nimmt? Große Teile des dritten Klavierkonzerts mit dem maniriert-autistischer denn je agierenden Jewgenij Kissin und gewissermaßen das ganze erste mit dem schlicht fehlbesetzten Gianluca Cascioli dürften getrost in diese kulinarische Kategorie gezählt werden. "Wenn man versucht, Beethovens Welt objektiv zu betrachten, dann ist eine Interpretation à la Haydn ebenso falsch wie eine Interpretation à la Wagner", gestand Abbado jüngst im Gespräch mit Frithjof Hager. "Ideal - und das ist die Schwierigkeit - ist: nur Beethoven."

Das klingt gewiss einfältiger, als es gemeint ist. Ein Mann der Worte war Abbado nie. Ob wir uns Ludwig van Beethoven nun aber als Inkarnation des faustisch zerzausten Originalgenies vorstellen, von Geistesblitzen ebenso umwölkt wie von schwefelsauren Dämpfen, oder als Alt-Siegfried auf dem Marmor-Block, der sich permanent selbst mit neuem Drachenblut netzt - auch beim späten Abbado zeigt sich keine verletzliche Stelle. Die Außenhaut bleibt unversehrt, der Kunstpanzer meisterlich wehrhaft - mag es drinnen im Denkmal auch noch so heftig brodeln. Und vielleicht ist eine solche Ästhetik ja viel wagemutiger, viel moderner und souveräner als jenes heillos aufgeklärte kritische Bewusstsein, dem wir uns bislang so gerne anvertrauten.

Dass die Berliner Philharmoniker vor zwei Tagen für ihre Einspielung von Gustav Mahlers zehnter Sinfonie unter Sir Simon Rattle, seinem Nachfolger, mit einem Grammy ausgezeichnet wurden, mag Claudio Abbado erfreut oder getroffen haben. Die Zeichen stehen auf Zukunft. Und darauf, dass Abbado, würde er morgen gefragt, ob die Berliner ihn geliebt hätten, eine bessere Antwort bereit halten kann als einst in Wien über die Wiener Philharmoniker: "Ob oder wie oder ob nicht oder wie nicht, ich weiß es bis heute nicht."