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Claudio Abbado in Wien /a Vienna

Wien: Frankfurter Allgemeine Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Feb


Metaphysische Lebenslust
Claudio Abbados Beethoven-Triumph im Wiener Musikverein

WIEN, im Februar

Was kann das symphonische Schaffen Beethovens uns heute noch sagen? Ist nicht der Freude "schöner Götterfunken", den die Aufklärung zu Recht in den zart keimenden bürgerlichen Demokratien aufblitzen sah, längst im Dunkel nüchterner Skepsis verblaßt? Ist nicht das Pathos, mit dem Beethovens Musik triumphal von einer Menschheit in Freiheit kündete, vorm blutigen Schreckensgesicht der Historie des 20. Jahrhunderts fragwürdig geworden? Schon vor dreißig Jahren hatte Adorno seine Zweifel über das unverhohlen Affirmative an Beethovens Werken geäußert, das nur durch den Rekurs auf die Entstehungszeit nachvollziehbar ist. So wenig Kunst überzeitliche Ansprüche reklamieren kann, so wenig ist sie indes auf epochale politische Wirksamkeiten zu reduzieren. Mag Beethovens Schaffen auch als heroische Begleitmusik der bürgerlichen Emanzipation gedient haben, ihr künstlerischer Wert erschöpft sich dennoch nicht darin. Und so kommt es stark darauf an, das Hörbild zurechtzurücken, das Überdauernde, künstlerisch heute immer noch Aussagekräftige herauszuarbeiten, ohne deshalb den historisch gewordenen Ballast zu negieren, diesen vielmehr in einen anderen Kontext zu stellen, der Beethovens nicht wegzuleugnendes Pathos seiner affirmativen Gewißheit entkleidet und zugleich dessen historische Berechtigung erweist.

Nichts weniger als dieses Kunststück ist Claudio Abbado in seiner sukzessive bis Mai 2000 entstandenen, im Herbst erschienenen CD- Einspielung sämtlicher Beethoven-Symphonien mit den Berliner Philharmonikern gelungen, die von der Fachwelt wohl nicht zuletzt deshalb so kontrovers aufgenommen wurde. Von den Qualitäten durfte sich das in jüngster Zeit wohl nur selten so begeisterte Wiener Publikum live überzeugen, als Abbado und die Berliner - nach ihrem Beethoven-Zyklus in Rom - nun auch eine ganze Woche lang im Musikverein gastierten, um mit ihrer neuen Beethoven-Sicht zu beeindrucken. Dabei war der gesundheitlich immer noch stark angegriffen wirkende Abbado während seiner Zeit als Generalmusikdirektor in Wien für nichts mehr gescholten worden als für seine Beethoven-Deutungen. Zu seinen schärfsten Kritikern zählte damals jener Rezensent des Wiener "Kurier", der jetzt plötzlich in einer Hymne über ein Konzert berichtet, "das ich nie vergessen werde", ja "ein kaum definierbares Gefühl von Angst um den Dirigenten" verspürt - an dessen jähem Abgang er 1991 tatkräftig mitgebastelt hatte. Was konnte diesen Stimmungsumschwung bewirkt haben?

Abbados vor fünfzehn Jahren mit den Wiener Philharmonikern eingespielter Beethoven-Zyklus war in der Tat ganz anders angelegt: Auf den weichen Wohlklang der Wiener Streicher gebettet, schien sein Deutungsansatz damals noch ein wenig zwischen dem obligat romantischen Klangbild und einer reduzierteren Klarheit zu schwanken. Jetzt ist das Pendel eindeutig zugunsten der letzteren ausgeschlagen, und das dürfte auch daran liegen, daß Abbado als einer der wenigen großen Dirigenten die Musizierpraxis der mittlerweile zahlreichen Originalklangensembles ernst nimmt. Deshalb verzichtet er auf die große Orchesterbesetzung, läßt die frühen Symphonien sogar mit nur acht ersten Geigen, vier Celli und drei Kontrabässen spielen und zielt ganz auf einen transparenten, manchmal in der Tat durchaus nüchternen Tonfall, der Beethoven jedes aufgesetzte Pathos raubt, ohne sich dadurch auf bloße Oberflächenpolitur zu beschränken. Dafür sorgt nicht zuletzt Abbados auf Wilhelm Furtwängler zurückgehender Sinn für lange Bögen. Gepaart mit schnellen, fast schon fahrigen Tempi, mischt sich dieser lange Atem höchst eigenwillig mit einer subjektive interpretatorische Zutaten bewußt reduzierenden Gelassenheit, die ganz auf die Kraft der Kompositionen vertraut und dadurch ein um so wahrhaftigeres Gegenstück zu Christian Thielemanns problematisch dick aufgetragenen Beethoven-Deutungen bildet.

Diese Zurücknahme der Subjektivität enthält manchmal aber auch Schwachstellen, wie etwa in der achten Symphonie, die Abbado zwar kraftvoll, aber in der Dynamik doch etwas zu undifferenziert spielen läßt. Die fast schon wütenden Repetitionen in den beiden Ecksätzen, ein geradezu erhabener Protest gegen den falschen Weltenlauf, erhalten Sinn nur, wenn die immanente Steigerungsdramaturgie wirklich auf die Spitze getrieben wird. Deutlich wurde dabei auch, daß sich Abbados - den neuen Ausgaben von Jonathan Del Mar folgende - Beethoven-Sicht stärker an der horizontalen als an der vertikalen Dimension der Partituren orientiert, so daß die Binnenstrukturen nicht so lupenartig fokussiert werden wie etwa bei Nikolaus Harnoncourt. Aber das soll kein Einwand sein, zumal daraus ein großzügiges Legato resultiert. Dennoch gewannen die Abende vor allem dann, als mit Solisten gleichsam subjektive Gegenpole zu Abbados Objektivismus hinzutraten: Als gälte es, seine körperliche Kraft noch einmal unter Beweis zu stellen, kombinierte Abbado die Symphonien nämlich auch noch mit allen fünf Klavierkonzerten Beethovens. Ein enormes Programm, selbst für einen physisch fitten Dirigenten, natürlich aber auch eine willkommene Belebung der Programmdramaturgie, die durch Abbados Wahl von fünf verschiedenen Solisten eine ganz eigene Farbe erhielt.

So stieß das kraftvolle Spiel von Martha Argerich, die zu Beginn das zweite Konzert konturenreich formte, auf die lyrische Eleganz von Maria João Pires im vierten, der romantische Tonfall von Jewgenij Kissin im dritten auf das luzide Spiel des italienischen Newcomers Gianluca Cascioli im ersten. Mit Bedacht hatte Abbado die Solisten mit den richtigen Werken betraut: Ließ Kissin das dritte fast chopinhaft rauschend ertönen, nicht ohne im zweiten Satz Momente höchster Innigkeit zu erzeugen, so näherte sich der italienische Newcomer Gianluca Cascioli dem ersten mit klaren Linien im hell angeschlagenen Diskant und ohne pedalisierende Verschleierungen. Auch wenn das Werk klanglich noch vollendeter durchdrungen werden könnte, fügten sich das luzide Spiel des erst Einundzwanzigjährigen und natürlich auch Maurizio Pollinis schnörkellose Deutung des Es-Dur-Werks zur neuen Beethoven-Sicht Abbados blendend. Delikat kommunizieren die - vor allem in den Holzbläsern solistisch mitdenkenden - Berliner Philharmoniker mit den fünf Solisten. Selbst in den lautesten Fortissimopassagen des fünften, weit heroischer angelegten Konzerts gelang Abbado und den präzise spielenden Berlinern das Kunststück, die Transparenz zu wahren. In Maurizio Pollini fanden die Philharmoniker einen technisch souveränen Partner, wenngleich es auch ihm nicht ganz gelang, den auftrumpfenden Gestus des ersten Satzes entscheidend zu mildern.

Das war Abbado selbst vorbehalten, dessen Zugang vor allem der dritten, fünften und neunten Symphonie wohltuend unprätentiöse Züge verlieh. Fast schon trocken das Fortissimo des in punktierten Noten absteigenden Themas im Kopfsatz der Neunten; rastlos das von der Pauke mit energischer Prägnanz vorangetriebene Scherzo; ohne falschen Überschwang, in fast schlichtem Cantabile die "Ode an die Freude", die der Schönberg- Chor ganz im Sinne Abbados ohne Vibrato in klaren Linien sang. Nicht minder zurückhaltend das nie auftrumpfend tönende Solistenquartett (Angela Denoke, Larissa Diadkova, Rainer Trost und Albert Dohmen). Selbst dem berühmten Pochen der Terzen am Beginn der Fünften raubt Abbado jeden Anflug von pathetischer Schicksalhaftigkeit. Dabei fehlte es nicht an geradezu brachialer Kraft und tosender Lautstärke: Selten war etwa der Finalsatz der Fünften mit derart knalligen Blechbläsersätzen zu hören. Aber das atemberaubende, Beethovens Metronom- Angaben durchaus entsprechende Tempo und vor allem die kurze, prägnante Artikulation ließen nie ein Gefühl von lastender Schwere aufkommen. Eher ertönte ein Hymnus des Lebens, der den Revolutionsballast der Historie längst hinter sich gelassen hat. Viel falsches Gewicht raubte dem Finale auch der Umstand, daß Abbado, penibel auf alle Doppelstriche bedacht, auch das Scherzo wiederholen ließ, das dadurch nicht bloß als flüchtiges Übergangsstück ertönte, sondern formale Eigenständigkeit erhielt.

Vielleicht ist dieser unbedingte Willen zum Leben, den Abbado trotz aller physischen Gebrechlichkeit ausstrahlt, auch der Schlüssel für die Unmittelbarkeit, mit der seine Beethoven-Deutungen die Zuhörer berührend packten: Wie er vor allem die "Pastrorale" jenseits bukolischer Schönfärbereien, als zärtliche Liebeserklärung an die Wonnen und Stürme des Lebens interpretierte, das besaß nahezu metaphysische Qualitäten. Und da rückt Abbado, trotz aller italienischer Eleganz, erneut ganz nahe an Furtwängler heran: Deutscher Tiefsinn, gepaart mit südländischer Leichtigkeit - eine wunderbare Mischung. Belohnt vom enthusiastischen Wiener Publikum mit zwanzigminütigen standing ovations nach der Neunten und einem Blumenregen auf das phantastische Orchester.

REINHARD KAGER