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Von der Kunst, hellhörig zu hören
Ein Festival-Orchester inspirieren: Claudio Abbado in Luzern
Richard Strauss wusste insgeheim Bescheid über die Dekadenz - dass es ¸¸zu Ende ist mit diesem Weltbild", wie er es in der natur- und klangseligen ¸¸Alpensymphonie" kurz vor dem Ersten Weltkrieg beschwören zu müssen glaubte. Die Behauptung stammt vom Avantgardekomponisten Helmut Lachenmann, von dem bisher niemand vermutete, dass er seine radikal neue Musik ausgerechnet mit derjenigen von Strauss in einem Konzert hören lassen wolle. Schauplatz dieses Clashs der Musiksprachen morgen Abend: das Lucerne Festival, das sich seit ein paar Jahren solche und andere unerwartete Begegnungen leistet - und sich wohl auch damit in die Spitzengruppe der europäischen Musikfestivals manövriert hat.
Für Lachenmann jedenfalls, den bald siebzigjährigen composer in residence in Luzern, ist die ¸¸Alpensymphonie" als Abschiedsmonument längst kein Schreckgespenst mehr, sondern, positiv gewendet, symphonischer ¸¸Abschied in gespenstischem Jubel". Lachenmanns Schlussfolgerung lautet: ¸¸Wir sollen lernen, hellhörig zu hören, statt aufgeklärt die Nase zu rümpfen" über Strauss, wie es seit Adorno intellektuelle Mode geworden war.
•••• Hellhörig hören, akkurater, bewusster, kreativer hören und musizieren - in diese Richtung bewegt sich jeder ¸¸Fortschritt" in alter und neuer Musik heute, angestoßen von couragierten Musikern. Mortiers Salzburg hat in den Neunzigern vorgemacht, wie man selbst bei Repräsentationsfestspielen das musikalisch Zeitgenössische ins Angebot des traditionell Wertbeständigen integriert. Aber das Lucerne Festival, das vor zehn Tagen begann und bis Mitte September andauert, wollte sich noch einen anderen starken Impuls geben, als es vor zwei Jahren ein eigenes Orchester gründete und dafür Claudio Abbado, der sich gerade bei den Berliner Philharmonikern verabschiedet hatte, als Dirigenten gewann. Im dritten Jahr hat sich das Orchester weiter konsolidiert - und mit drei der Spätromantik und Moderne gewidmeten Programmen abermals Aufsehen erregt.
Eine Klangkörperchemie
Die Besonderheit des Orchesters steckt schon in seiner Vorgeschichte, die mit Toscaninis Namen verknüpft ist. Beim Schweizerischen Festspielorchester standen jahrzehntelang Größen wie Furtwängler, Karajan, Walter oder Kubelik am Pult. Die ¸¸Chemie" des von Abbado neu gegründeten Orchesters wird auf besondere Weise von den Mitgliedern und dem Dirigenten bestimmt. In die Stammformation des jungen Mahler Chamber Orchestra fügen sich namhafte Solisten ein: Die Cellistin Natalia Gutman und der Berliner Oboist Albrecht Mayer, als Konzertmeister Kolja Blacher, das Hagen-Quartett (nicht einmal an den ersten Pulten) und das halbe Alban-Berg-Quartett, die Klarinettistin Sabine Meyer und ihr Bläserensemble, der Trompeter Reinhold Friedrich, einzelne Konzertmeister und Solo-Mitglieder großer Orchester aus Wien, München, Hamburg, Zürich oder Rom. Sie alle lockt, mit fast magischem Zauber, Claudio Abbado für drei Wochen nach Luzern.
Glaubt man dem Solo-Trompeter Friedrich, dann ist aus dem Orchester inzwischen ¸¸ein Klangkörper geworden, bei dem die kleine Zehe spürt, was der kleine Finger macht". Tatsächlich sind Hellhörigkeit und klangliche Flexibilität des Ensemblespiels enorm gewachsen, was mit Abbados Dirigierkunst sowie seiner ganzen künstlerischen Haltung zu tun hat. Beharrlicher Gründer von Jugendorchestern, versteht er es, sich mit Musikern geistig zu verbünden. ¸¸Mich hat immer die Freude gemeinsamen Musizierens angetrieben", lautet sein künstlerisches Lebensmotto. Abbado hat sich den Traum eines jeden Dirigenten erfüllt: das Musizieren in freier Selbstbestimmung mit einem Orchester der eigenen Wahl, also befreundeten Musikern, die die symphonische Musik in die Transparenz, Leuchtkraft, Dichte und Sinngebung von Kammermusik setzen.
In Luzern geben sich zwar in jedem Sommer große Orchester der Welt ein Stelldichein, so in den nächsten Wochen etwa die Ensembles aus Cleveland, Leipzig, Amsterdam und Chicago, die Berliner, New Yorker, Wiener, Londoner Philharmoniker und ihre Dirigenten. Doch möglicherweise hat keines dieser Orchester den Hörern eine solche aus Spiellust und Intuition gespeiste musikalische Individualisierung, klangliche Farbigkeit, Spannungsvielfalt, ¸¸Persönlichkeit" anzubieten wie Abbados Luzerner Sommerorchester. Nach Bruckners Siebter zu Beginn waren es vor allem die Mahlersche Siebte, eine Reihe von orchestrierten Schubert-Liedern (mit Thomas Quasthoff als überragendem Sänger) •sowie ¸¸Tristan"-Vorspiel und -Liebestod, die solche Qualitätsvermutung nahe legt.
Man war versucht, Richard Wagners ¸¸Wunderharfe" von Dresden in Luzern anzusiedeln. Zumal der große Saal von Jean Nouvels Konzerthaus am See - auch bei Luigi Nonos ¸¸Prometeo"-Suite - vollends wie ein kostbares Instrument wirkt. Abbado schien das Orchester anzuspornen, wie eine Riesenlunge zu atmen, die Tristan-Stimmen strömen und gleiten zu lassen - doch dann das ominös donnernde Finale von Mahlers Siebenter in ein Pandämonium der Moderne, des höllischen Sarkasmus" zu verwandeln. Das Lucerne Festival gibt sich damit nicht zufrieden - lebende Komponisten erhalten Zeit und Rechte, so eben Helmut Lachenmann. Und es begann die Festival Academy der Jungen - mit dem alterslosen Pierre Boulez als Mentor.•
WOLFGANG SCHREIBER
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