Rattle's Debut in Berlin
Willkommen dem neuen Mieter

Süddeutsche Zeitung 6.September 2002



REINHARDJ.BREMBECK

Sehet, der Erlöser naht

Am Samstag tritt Simon Rattle erstmals als Chefdirigent vor die Berliner Philharmoniker und soll damit eine Zeitenwende in der Klassik einleiten

Man muss sich nach Birmingham begeben, um zu verstehen, was Berlin demnächst bevorsteht. Dem Reisenden, der erstmals die Stadt betritt, erscheint die Innenstadt wie eine große Einkaufszone. An deren Rändern stehen noch die Reste des alten Birmingham, einer typischen englischen Stadt mit ihren adrett aneinander gereihten Einfamilienhäusern. Pünktlich um sechs Uhr abends werden die Gehsteige hochgeklappt, und dann besiedeln nur noch die Arbeits- und Obdachlosen das Einkaufsparadies, während der Rest der Einwohnerschaft, die es aus allen Ecken des Empires hierher ins Zentrum Englands verschlagen hat, in die Pubs und China-Food-Läden strömt.

Doch inmitten all dieses postmodernen Gewusels, in einer Stadt am Rande des sozialen Zusammenbruchs steht unbeeindruckt die Town Hall. Simon Rattle weist vom Coffeeshop gegenüber, wo er sich nach der Orchesterprobe den Kaffee im Pappbecher holt, stolz auf das alte Gebäude. Dem Parthenon auf der Athener Akropolis nachgebaut, erklärt er. Auch die Town Hall ist in Birmingham ein Fremdkörper, wie so vieles hier. Aber was für ein Fremdkörper. Felix Mendelssohn-Bartholdy hat hier 1846 seinen "Elias" uraufgeführt, 1900 folgte Edward Elgars "Dream of Gerontius" – ein in Deutschland nie bekannt gewordenes Stück. Und 1980 begann hier eine der erfolgreichsten Musikerkarrieren der Neuzeit.

Nacht und Provinz

Damals trat der 25-jährige Simon Rattle erstmals als Chef vor das 1920 gegründete und bis dato außerhalb Britanniens so gut wie unbekannte City of Birmingham Symphony Orchestra – um es erst 18 Jahre später, 1998, zu verlassen. In diesen Jahren reifte das Junggenie Rattle so gar nicht über Nacht, dafür aber in der Provinz, zum begehrtesten Dirigenten der Welt. So begehrt, dass ihn die Berliner Philharmoniker 1999 nach der überraschenden Rücktrittserklärung von Claudio Abbado zu ihrem sechsten Chefdirigenten wählten, nach Hans von Bülow, Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Herbert Karajan und Abbado – Sergiu Celibidache wird in den Orchesterannalen nur als ständiger Dirigent geführt.

Wenn am morgigen Samstag Simon Rattle erstmals die Berliner Philharmoniker als Chef dirigiert, dann beginnt nicht nur eine neue Ära in der Geschichte des neben den Wiener Philharmonikern berühmtesten Orchesters der Welt: Dann beginnt auch eine neue Ära in der Vermittlung klassischer Musik. Sich für diesen riskanten Weg entschiedenen zu haben, ist die große Leistung der Berliner Philharmoniker. Sie stehen damit im Gegensatz zu vielen großen Orchestern, die derzeit verstärkt auf die Stars eines nie von ihnen hinterfragten Musikbetriebs setzen. Denn mit Rattle denken die Philharmoniker eine Zukunft an, die vielen traditionellen Klassikfans in Deutschland als größter denkbarer Horror erscheint: die Zukunft klassischer Musik in einer zunehmend egalitären Gesellschaft, die die Hochkultur immer weniger oder eventuell gar nicht mehr subventioniert, und die sich vollends von den idealistisch bildungsbürgerlichen Werten und Ritualen der Musikvermittlung abgewandt haben wird. In diesem Szenario soll der Charismatiker und elegant leidenschaftliche Rattle den Retter spielen – ihm traut man zu, dass er die Klassik in einer dem Kapitalismus, der Fernsehdumpfheit und den leichten Verlockungen des Pop ergebenen Welt verführerisch und massenwirksam positionieren kann.

Dafür bietet Rattle tatsächlich bessere Voraussetzungen als die meisten seiner Kollegen. Allein schon weil er der umfassendste Dirigent unter ihnen ist. Rattle – kein Mann der Extreme, sondern ein lyrisch leidenschaftlicher Musikdenker – hat alle Möglichkeiten und Bereiche der Orchesterarbeit ausgeschöpft. Seit 1975 leitet er Opernproduktionen für das Glyndebourne-Festival, lehnt aber den Repertoirebetrieb mit seinen Schlampereien ab und ist deshalb ausschließlich für unter Idealbedingungen erarbeitete Aufführungen zu gewinnen. Er besitzt zudem große Erfahrungen im Umgang mit der historischen Aufführungspraxis: So arbeitet er beinahe seit der Gründung (1986) des auf alten Instrumenten spielenden Orchestra of the Age of Enlightenment mit diesem Ensemble zusammen, häufig bei Opernproduktionen in Glyndebourne. Und als Chef in Birmingham hat sich Rattle konsequent um das gesamte sinfonische Repertoire gekümmert, ohne die bewährten Reißer zu bevorzugen. Auch setzte er von Anfang an und regelmäßig Beethoven, Mozart und Haydn auf das Programm – und mit den Sinfonien dieses ersten Klassikers hat Rattle größte Triumphe gefeiert.

Die englische Musiktradition hat schon immer ein sehr viel breiteres Repertoire gepflegt als die deutsche. Dirigenten wie Thomas Beecham, John Barbirolli oder Adrian Boult haben neben deutschen und englischen Komponisten gleichberechtigt auch immer Franzosen und Skandinavier dirigiert. Rattle ist Erbe dieser weitgefächerten Repertoire-Politik, er führt aber auch US- amerikanische Komponisten (um die lateinamerikanischen Meister hat er einen Bogen gemacht) gern auf. Dabei sind es weniger die Avantgardisten Cage, Feldman und Crumb, denen seine große Liebe gilt, sondern eher Gershwin, Copland, Bernstein und der Jazz.

Der Hang zu Swing, U-musikalischer Leichtigkeit und Fasslichkeit sowie die Lust an allgemeiner Verständlichkeit prägt auch Rattles Zugang zu den Zeitgenossen. Die bitterernste Avantgarde mit ihren radikalen Experimenten ist seine Sache nicht. Viel eher bevorzugt er Stücke, die sich einem breiten, nicht-spezialisierten Publikum leicht und überraschend erschließen. Zwischen 50 und 100 Erstaufführungen hat er bereits dirigiert – aber er weiß selbst nicht, wie viele es wirklich waren. So ist er äußerst begeistert von den neuesten Stücken György Ligetis, von dessen klassizistischer Rückwendung zum Konzert, die durch einen schillernd eklektizistischen Zugriff auf afrikanische Musik, Mittelalterliches, mikrotonale Toneinfärbungen und impressionistisch- buddhistische Gelassenheit bestimmt ist.

Von hier aus ist der Weg nicht weit zu Thomas Adès, dem erst knapp über dreißigjährigen Jungstar unter den englischen Komponisten, den Rattle als "größtes Talent" tituliert. Ein Klitterer, der sich schamlos bei Mittelalter bis Techno bedient und, noch schamloser, daraus etwas hybrid Eigenes formt. Also geht Rattle mit Adès' "Asyla" in Berlin an den Start. Ein zart tänzerisch tobendes Stück, das er in seiner letzter Birminghamer Spielzeit uraufgeführt und auch schon auf CD eingespielt hat. Dazu kommt Mahlers Fünfte, die beim Eröffnungskonzert für die Platte live mitgeschnitten wird, und die den Zyklus seiner Mahler-Aufnahmen fast vollständig macht. Nur um die problematische Achte hat Rattle bisher einen großen Bogen gemacht – das wird eine große Herausforderung für seine Berliner Zeit. Aber dort hat er Dank seines Zehn- Jahres-Vertrags viel Zeit für solche Probleme.

Hybrid und schamlos

Rattles Universum will die Gleichberechtigung aller Musik. Ganz egal, ob er Nielsen, Rameau, Haydn, Turnage, Strauss, Walton, Bach oder Sibelius dirigiert, immer werden die Stücke momentan für das Wichtigste auf der Welt genommen. Diesem demokratischen Verständis der Musikgeschichte, das die qualitativ guten Stücke als unvergleichbar nebeneinander bestehen lässt, entspricht, dass Rattle, schon in Birmingham, Orchester und Publikum aus den Fesseln des überlebten Konzertrituals befreite, dass er viel Zeit und Energie auf die Kinder- und Jugendarbeit verwendet, dass er großen Wert darauf legt, dass seine Musiker Kammermusik machen – er selbst tritt in Berlin als Pianist in Messiaens "Quatuor pour la fin du temps" an.

Simon Rattle wird zwar demnächst ein halbes Jahr in Berlin verbringen, aber weiterhin in London wohnen bleiben. Als er kürzlich zur Berliner Philharmonie fuhr, sagte der Taxifahrer zu ihm: "Wir warten schon auf Sie." Das kann ihm in London nicht passieren. Da zählt ein weltberühmter Dirigent nicht mehr als sein Nachbar, da ist klassische Musik schon längst etwas unspektakulär Selbstverständliches.