KONZERTE IN BERLIN, 2002

Konzert 2: 
Berlin, Philharmonie
13,14,15 /02/2002

25,26/02/2002

Tagesspiegel
Berliner Morgenpost
Berliner Zeitung
Neue Zürcher Zeitung


Schumann - Bach

Kritiken : Süddeutsche Zeitung

Süddeutsche Zeitung 27.Februar 2002


Berliner Reigen

Abbado mit Faust-Szenen, Rattle mit der "Johannes-Passion"

Die Faust-Saga nach Goethe, vertont von Robert Schumann, und das Evangelium nach Johannes, vertont von Johann Sebastian Bach: In Philharmonischen Konzertsälen stehen solche Kompositionen am Rande der gängigen symphonischen Aufführungspraxis. Dennoch haben die Berliner Philharmoniker innerhalb nur einer Woche beide Stücke dargeboten, dirigiert von ihrem alten, jetzigen und dem neuen, künftigen Chefdirigenten: Claudio Abbado und Simon Rattle. Nun können Faust und Jesus als vertonte Schlüsselfiguren der Weltkultur sozusagen immer Furore machen. Der immer strebend, quälend sich Bemühende und der gekreuzigt alle Erlösende, das ist unerhörtes musikalisches Bild- und Handlungsreservoir.

Wahrscheinlich ist Claudio Abbado, der fast grüblerisch introvertierte Künstler, unter seinesgleichen derjenige, der sich am leidenschaftlichsten mit dem Wort und den Büchern, mit Literatur und Lesen auseinandersetzt, ohne doch ein ?Intellektueller? zu sein. Wie sonst wäre zu verstehen, dass er schon zum zweiten Mal mit den Berlinern Schumanns späte ?Szenen aus Goethes Faust? aufführt? Wahr ist: Erst Abbados literarische Impulse haben zu den spektakulären Jahresthemenprojekten der Berliner Philharmoniker geführt – Faust, Hölderlin, Prometheus, das Wandern, Liebe und Tod, der Parsifal-Zyklus ?Zum Raum wird hier die Zeit?. Andererseits besiegeln Schumanns oratorische Faust-Szenen im Jahr von Abbados Abschied von Berlin endgültig des Italieners tiefe Zuneigung zur deutschen Literatur wie zur deutschen Musik – und sei es mit recht entlegenen Beispielen. Gerade hat er Beethovens rare Chor-Fantasie und die periphäre ?Lobgesang?-Symphonie Mendelssohns aufgeführt.

Die großen tragischen Stoffe der Weltliteratur, dunkle Orchesterfarben und weiche Pastelltöne des Instrumentalklangs, schweifendes Melos – nach der Durchleuchtung des ?Tristan? und des ?Parsifal?, auch nach seinem Kampf gegen eine schwere Krankheit, ist Abbados Darstellungskunst der musikalischen Romantik eines Robert Schumann noch gewichtiger geworden. Und die Faust-Musik klingt jetzt noch homogener, auch transparenter als 1994. Das beginnt bei der dunkel leuchtenden Ouverture, setzt sich fort in Gretchens Gartenszene und ihrer ?Ach neige!?-Verzweiflung, mit dem berückenden Sopran von Karita Mattila, kann kulminieren in der Figur des frühen und des späten Faust, wie sie der unvergleichliche Bariton Thomas Quasthoffs in ein lyrisches Strömen verwandelt, und darf schließlich seinen glücklichen Abgesang finden in Gestalt und Bass des Pater Profundus alias Kurt Moll. Zehn Vokalsolisten, drei Chöre (Schwedischer Rundfunkchor, Ericson Kammerchor, Tölzer Knaben), Berlins Philharmoniker: Abbado schweißt einen gewaltigen Klangapparat scheinbar mühelos zum Organismus romantischer Visionen. Der Faust-II-Symbolismus gilt fürs Ganze: ?Des Lebens Pulse schlagen frisch-lebendig?. Und das Schlussstück des Chorus Mysticus als achtstimmige Doppelmotette offenbart, wie geschmeidig geist-durchdrungen die romantische Musik und die alte Polyphonie, das Alte und das Neue, zusammenwachsen können.

Das Geheimnis eines so erfüllten Musizierens? Vielleicht das musikalische Konzentrations- und Hörvermögen des Dirigenten. Er führt Orchester, Chor und Solisten so präzise wie gelassen gleichsam wie zur Kammermusik hin. Und da beginnen Musizierideale miteinander zu kommunizieren, denn auch das impulsivere Temperament Simon Rattles ist beherrscht vom Prinzip der Stimmendeutlichkeit und Luzidität des Klangs. Dem entprach in der Berliner Philharmonie schon die Musikeraufstellung, wodurch die dramaturgische Struktur wie das musikalische Handlungsgeschehen in Bachs ?Johannes-Passion? sinnfällig gemacht wurde: Holzbläser noch vor den Streichern positioniert, direkt vorn beim Dirigenten, die Continuo-Gruppe – und die Sänger von Evangelist und Jesus/ Pilatus mittendrin – auf der rechten, die übrigen Solisten auf der linken Seite des Podiums. Simon Rattle als klug anfeuernder Regisseur von Klanggruppen-Expressivität.

Was schon im Einleitungschor plastisch sich herauskristallisiert. Zu hören ist ein gespannt sich reibendes Gegen- und Ineinander musikalischer Phänomene: lang gezogene Bläserlinien (Flöten, Oboen), die wie schmerzliches melodisches Singen oder Keuchen anmuten, ein zuversichtlich flehendes Menschheitschor-Getümmel (?Herr, unser Herrscher?) über beharrlich pochenden Bässen. Rattles erstmalige Beschäftigung mit der Bach-Passion hat elementaren Charakter. So wie das Staunen der Ursprung der Philosophie ist, darf man Freude als die Grundkraft der Musik ansehen. Die strahlt Simon Rattle aus, auch wenn er die Bach-Passion dirigiert, den Rias-Kammerchor zu erstaunlichen vokalen Schattierungen animiert.

Freilich haben Rattle und die klein besetzten Philharmoniker einen Wortführer bei sich, der die Evangelisten-Erzählung mit flammender Diktion und glühender Bildfantasie – die helle Teorstimme äußerst kontrolliert – angeht: Ian Bostridge. Und einen Bariton für das Jesus- und Pilatus-Drama, der schön singt und charakterisiert: Thomas Quasthoff. Neben ihnen: Juliane Banse, Michael Chance und Rainer Trost. Rattle kann das: emotionale Subjektivität, rasche musikalische Geistesgegenwart und einen siebten Sinn für rhythmisch Irreguläres, Spannungsvolles furios verbinden mit seiner spontanen Direktheit.

WOLFGANG SCHREIBER