KONZERTE IN BERLIN, 2002

Konzert 1: 
Berlin, Philharmonie
6-7-8-9 /02/2002

Tagesspiegel
Berliner Morgenpost
Berliner Zeitung
Neue Zürcher Zeitung

Ludwig van Beethoven Fantasie für Klavier, Chor und Orchester c-Moll op. 80
Felix Mendelssohn Bartholdy Symphonie Nr. 2 B-Dur op. 52 ("Lobgesang")
Maurizio Pollini Klavier

Karita Mattila Sopran
Lioba Braun Sopran
Peter Seiffert Tenor
Schwedischer Rundfunkchor
Eric Ericson Kammerchor


BERLINER PHILHARMONIKER

Claudio ABBADO


Beethoven - Mendelssohn

Kritiken (2): Berliner Zeitung

Berliner Zeitung 8.Februar 2002


STARKE MITTEL, SCHWACHER TROST
CLAUDIO ABBADO UND EIN AUFGEBOT TEURER KRÄFTE GEBEN BEETHOVEN UND MENDELSSOHN
Von Peter Uehling
Am Mittwochabend umstanden Menschenmassen das zum Berlinale-Palast umgewidmete Musicaltheater am Potsdamer Platz, die Zeugen des erhebenden Vorgangs werden wollten, wie Stars aus dem Gebäude treten und in bereitstehenden Limousinen Platz nehmen. In der nahen Philharmonie ebenfalls Scheinwerferlicht und Kameras, auch hier Stars, allerdings arbeitende, Claudio Abbado nämlich und Maurizio Pollini, und statt der repräsentativen Rede eines Bundeskanzlers gab es hier repräsentative Musik: Beethovens für den Abschluss eines 1808 veranstalteten Konzertes eilig zusammengeschriebene Chorfantasie op. 80 und Mendelssohns zum Gutenberg-Jubiläum 1840 komponierte Symphonie-Kantate "Lobgesang".
In seiner Festlichkeit ist das Programm zu Abbados fragendem Dirigentennaturell schwer ins Verhältnis zu setzen, aber wenn dort geklotzt wird, will man hier nicht kleckern: Die Berliner Philharmoniker begleiteten nicht nur Pollini, sondern auch den Schwedischen Rundfunkchor und den Eric Ericson Kammerchor, die man beide gern hört, weil es bessere Chöre auf der Welt nicht gibt, die zu engagieren aber angesichts der beiden ebenfalls vorzüglichen Berliner Profichöre und einer fatalen Finanzlage reichlich versnobt ist.
Pollini wirkte im Solopart der Chorfantasie nervös. Nicht nur gelang vieles nur mit äußerster Anstrengung, auch der improvisatorische Gestus, die Suggestion der Freiheit, in jedem Moment neu über die Richtung der Musik zu entscheiden, stellte sich nicht ein. Pollini klammerte sich eng ans Notenbild, spielte die unbegleitete Einleitung wie eine Komposition, und damit war die Dramaturgie des Stückes, die allmähliche Gravitation der unverbindlichen Improvisationsfloskeln zur definierten Form eines Themas, auch vom Orchester nicht mehr zu retten.
Während es bei Beethoven noch manchen Widerhaken auf dem Weg zum Schlussjubel auszuräumen gilt, ist der "Lobgesang" von vornherein auf einen festlichen Ton gestimmt, der auch durch die Dirigierkunst Abbados nicht zu brechen, sondern allenfalls zu schwächen ist. Gleich die einleitende, das Ganze verklammernde Posaunenmelodie ist schwer darzustellen: Nimmt man sie hymnisch gestoßen, hebt man ihren punktierten Pomp bis zur Peinlichkeit hervor; nimmt man sie, wie Abbado, in einem Schwung, wirkt sie leicht betrunken und untauglich zum Ausdruck der intendierten Hochgefühle. Abbados einzigartige Fähigkeit, das Innere eines Tonsatzes zum Leben zu erwecken, findet in dieser Partitur kaum einen Gegenstand: Mendelssohn unterdrückt die Musik meist mit Melodien.
So grandios die Chöre singen - unglaublich, wie etwa Spitzentöne leise angesetzt, aufgezogen und wieder zurückgenommen werden -, die Aufführung konzentriert sich an zwei Stellen: Im Kopfsatz, in dessen polyfoner Struktur das Unterste auch mal zuoberst kommt, was unter Abbado einen wunderbar sprudelnden Orchesterklang ergibt, und im Ausruf des Tenors: "Hüter, ist die Nacht schon hin?". Stärker fast noch als Peter Seifferts hervorragende Vermittlung zwischen den liedhaften und dramatischen Momenten seiner Partie - Karita Mattilas vibrierender Schönklang war daneben blass - wirkt dabei der Lauf der Streicher kurz zuvor: Den glatten Klang aufreißend und einen kurzen Augenblick des Zweifels in der Repräsentation schaffend


Neue Zürcher Zeitung, 9.Februar 2002


Beethovens Neunte und zwei Sonderlinge
Ein Abend mit Claudio Abbado in der Berliner Philharmonie

Bei ihrer Erwähnung wird gern die Nase gerümpft, darum verirren sie sich auch so selten auf die Konzertpodien – und selbst ihre grosse Verwandte schützt sie vor dieser Unbill nicht. Mit seiner Neunten Sinfonie hat die Fantasie für Klavier, Soli, Chor und Orchester, die Ludwig van Beethoven im Herbst 1808 eilends komponierte, den äusseren Verlauf gemein, der von einem instrumentalen Beginn über den Beitritt von vier Vokalsolisten hin zu einem Finale mit Chor führt. Doch während «Freude, schöner Götterfunken» zum global anerkannten Kulturgut geworden ist, gilt die Chorfantasie als problematisch, wenn nicht misslungen. Allzu heterogen sei das musikalische Material, keineswegs schlüssig der Formverlauf mit seinem zerklüfteten Klaviersolo, den verwilderten Variationen des Orchesters, dem enthusiastischen Vokalteil. Erst seit jüngerer Zeit wird das Stück aus jener Funktion heraus verstanden, die es zu erfüllen hatte: als zusammenfassender Abschluss jenes Riesenkonzerts, in dem Beethoven seine Fünfte und seine Sechste Sinfonie, das Klavierkonzert Nr. 4, Teile aus der C- Dur- Messe und anderes präsentierte.
So wäre die Idee, die Beethovens Neunte später ausformte, dem Zufall entsprungen? Wie dem auch immer sei, Tatsache ist, dass die Vorstellung, das Instrumentale der Sinfonie lasse sich durch den Beizug von Singstimmen in einer besonderen Weise überhöhen, bis weit ins zwanzigste Jahrhundert – man denke nur an Hans Werner Henze und seine Neunte Sinfonie – gültig geblieben ist. Auch für Felix Mendelssohn Bartholdy lag es auf der Hand. Als er den Auftrag erhielt, für die Feierlichkeiten, mit denen in Leipzig Ende 1840 das Jubiläum «400 Jahre Buchdruck» begangen wurde, ein Stück zu komponieren, griff er jedenfalls zu der Sinfonie in B-Dur, die angefangen auf seinem Schreibtisch lag, und ergänzte sie durch einen vierten Satz, der dann freilich zu einer Kantate eigener Art auswuchs und durch sein oratorisches Gewicht die drei vorangehenden Sätze völlig in den Schatten stellte. In seiner Besprechung der Uraufführung in der Leipziger Thomaskirche stellte Robert Schumann denn auch fest, die Kantate wirke wie ein nachträglicher Einfall. Und just hierin liegt das Problem des Stücks, das im Sinfoniekonzert zu oratorisch und im Kirchenraum zu sinfonisch erscheint.
Die beiden Sonderlinge sind jetzt in der Berliner Philharmonie Seite an Seite aufgetreten – eine reizvolle Kombination. Elegant löst sie das Problem, dass Beethovens Chorfantasie aufwendige Besetzung mit kurzer Spieldauer verbindet und dass Mendelssohns Zweite nur knapp abendfüllend ist. Sie zeigt ausserdem, dass auch im Museum des klassisch-romantischen Repertoires Schätze lagern, die entdeckt werden können, und dass der Konzertbetrieb, dem andernorts Müdigkeit auf den Tod nachgesagt werden muss, durchaus seine Lebendigkeit hat. Nicht weniger als viermal war dieser Abend der Berliner Philharmoniker, die seit der Umwandlung der Trägerschaft in eine Stiftung auch in Berlin so heissen, angesetzt; und mit Arte, dem deutsch-französischen Kulturkanal, hat sich eine grosse Fernsehstation für ihn interessiert.
Freilich war für dieses Projekt auch nur das Beste gut genug. Wuchtig griff Maurizio Pollini am Anfang der Chorfantasie Beethovens in die Tasten, und zart fielen die Antworten aus; stürmisch drängte er nach vorn, und sanft fiel er wieder zurück: Entschieden (und ohne Rücksicht auf technische Gefahren) liess der Pianist spüren, wie wild dieser Einstieg, den der Komponist bei der Uraufführung improvisiert hat, um sich greift. Nach und nach kommen dann die Orchesterstimmen dazu, und unter der Leitung ihres demnächst abtretenden Chefdirigenten Claudio Abbado zeigten sich die Berliner Philharmoniker von ihren schönsten Seiten. Endlich die sechs Vokalsolisten sowie, von Bo Wannefors vorbereitet, der Schwedische Rundfunkchor und der berühmte Eric- Ericson-Kammerchor.
Jubel über Jubel im Finale: «Wenn sich Lieb' und Kraft vermählen, lohnt dem Menschen Göttergunst.» Aber diesen Chorklang wird man so rasch nicht vergessen: fest gefügt und mit strahlenden Obertönen versehen, ausgeglichen durch alle Register hindurch und zugleich von ausgeprägter individueller Zeichnung, zumal in den Mittelstimmen. Da fand auch die Wiedergabe von Mendelssohns «Lobgesang», wie der Komponist seine Zweite Sinfonie nannte, ihr Zentrum. Claudio Abbado nutzte das Potenzial von Chor und Orchester wie auch des mit Karita Mattila (Sopran), Lioba Braun (Sopran) und Peter Seiffert hervorragend besetzten Solistentrios für eine Deutung, die sich von den gewohnten Mustern oratorischer Praxis abhob, sich aber auch deutlich von seiner Einspielung mit dem London Symphony Orchestra unterschied, die 1985 bei der Deutschen Grammophon erschienen ist. Die Orchesterbesetzung vergleichsweise klein (und ohne die von Mendelssohn später hinzugefügte Orgel), der Gesamtklang kräftig, aber nirgends dick, die Tempi so flüssig, wie es die Partitur vorgibt, die Artikulation geschmeidig und auch in den unterstreichenden Punktierungen frei von jenem selbstgewissen Pathos, das mit dieser Musik lange Zeit verbunden war: An diesem beispielhaften Abend in Berlin sind zwei Sonderlinge in prächtigen Gewändern erschienen – und so zu neuer Wertschätzung gekommen.


Peter Hagmann

Arte sendet die Aufzeichnung dieses Konzerts am Sonntag, 17. Februar, um 19 Uhr. Am Mittwoch, 22. Februar, um 22.25 Uhr, zeigt Arte zudem den Film «Abbado - Nono - Pollini: eine Kielspur im Meer» von Bettina Ehrhardt und Wolfgang Schreiber.