PARSIFAL 2001

Berlin, Philharmonie
29/11/2001 & 01/12/2001

Tagesspiegel
Berliner Morgenpost

Berliner Zeitung

Süddeutsche Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung

RICHARD WAGNER
1813-1883

Parsifal

Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen
Dichtung von Komponisten

Amfortas: Albert Dohmen
Gurnemanz:Kurt Moll
Parsifal: Robert Gambill
Klingsor: Richard Paul Fink
Kundry: Linda Watson
Titurel: Hans Tschammer
Zwei Gralsritter: Franz Supper, Markus Hollop
Blumenmädchen: Caroline Stein, Christine Buffle, Heidi Zehnder, Gesa Hoppe, Karin Süß, Elena Zhidkova
Stimme aus der Höhe: Elena Zhidkova
Vier Knappen: Solisten der Tölzer Knabenchores, Philip Mosch/Peter Mair (alternierend), Tom Amir, Christian Fleigner, Simon Schnorr

Rundfunkchor Berlin
Tölzer Knabenchor

Berliner Philharmonisches Orchester

Claudio Abbado, Dirigent


Die Chronik des Wanderers (auf französisch)

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PERSONAGGI
Piero Farulli
Romano Gandolfi
Pierre Boulez

Parsifal, Berlin 2001

Kritiken (3)

Berliner Zeitung 1.Dezember 2001


Alles wird verwandelt
Abbado und die Berliner Philharmoniker spielen konzertant "Parsifal"

Der beherrschende Eindruck beim Hören von Claudio Abbados Interpretation der "Parsifal"-Musik ist der des Fließens. Das kann in Wagners letzter Partitur Verschiedenes bedeuten. Im Abendmahlsthema, mit dem das Werk anhebt, sind beispielsweise die traditionellen Gliederungseinheiten, die den Takt in schwere und leichte Zeiten unterteilen, vom Komponisten durch Überbindungen von den unbetonten an die betonten Werte weitgehend zum Verschwinden gebracht, das starre Viertelmuster weicht Atemvorgängen. Daraus zieht Abbado die Konsequenz, den Höhepunkt des Abendmahlsthemas, die betonte, expressive Septime über dem Grundton, sehr dicht und gesanglich an den folgenden Ton anzubinden. So überspült das Melos im Fließen die Grenzen tickender Metrik, in der Weitung des Atems scheint aus Zeit wirklich Raum zu werden.
Dem stellt Abbado dann das Gegenteil des akkurat ausgeschlagenen Metrums in vollem Bewusstsein entgegen: Der Marsch der Gralsritter mit dem Glockenostinato wird ungemein exakt ausgeführt, die vergleichsweise rasch genommenen Viertel werden gerade nicht zu Bögen verbunden, sondern zu einzelnen Schlägen verkürzt. Nicht nur klingt das im Orchester ganz anders als gewohnt, reizvoll kernig und archaisch nämlich und damit sehr verschieden vom sonst so souverän abgeblendeten Mischklang, der Wagners Instrumentation prägt. Das knochige Taktschema charakterisiert die Gralszusammenkünfte als verfestigtes Ritual im Unterschied zum fließenden spirituellen Geschehen. Festlich im Sinne eines affirmativen Gestus klingt die Musik nur an solchen Stellen, sonst vermeidet Abbado das Auftrumpfen mit dem breiten Strich bravourös.
Und das ist die zweite Bedeutung des Fließens: Sie betrifft den Vortrag selbst. Die Gurnemanz-Erzählungen im ersten Akt etwa werden von Abbado dicht zusammengefasst, nichts darf sich isolieren, die vielen wichtigen Motive, die hier erstmals exponiert werden, ziehen fast flüchtig vorbei, müssen sich als Teilmomente der Form einprägen, nicht als etikettierte Bildchen. Das steht in Spannung zur komponierten Struktur, denn über weite Strecken stellt, wie Adorno beobachtet hat, Wagner die Leitmotive wirklich wie Bildchen zusammen, die sich dem musikalischen Verlauf kaum je anpassen müssen: Selbst die wenigen Variationen gerinnen oft zu identisch wiederholbaren Formulierungen. Abbado interpretiert als "Kunst des Übergangs", was seiner Konstruktion nach zur Statik tendiert.
Was in den Gurnemanz-Erzählungen reizvoll ist, wird in der Szene zwischen Parsifal und Kundry problematisch: Das Fließen wird zwar hier und da zum Brausen, aber dennoch verhindert es jene Vertiefung des Ausdrucks, die erst die genau ausgeformte musikalische Phrase herstellt. Natürlich wird immer noch sehr diskret gespielt, es bleibt aber ohne rhetorischen Nachdruck, den die Momente brauchen, um sich voneinander abzuheben. In der Konsequenz, mit der Abbado seinen Ansatz hier verfolgt, führt seine Darstellung freilich heran an das Problem, das der Komponist selbst wohl mit dem zweiten Aufzug hatte: Der Widerwillen gegen den "alten Farbentopf", zu dem er hier wieder greifen müsse, ist der gegen das rhetorische Wesen exaltierten Theatergesangs, vor dem sich der alte Wagner retten wollte in die absolutmusikalische Realität jener Symphonien und Quartette, die er nicht mehr schreiben konnte. Aber auch hier bildet der musikalische Fluss die Folie, vor der sich plötzliche Umschläge tief einprägen: An erster Stelle ist hier nach der zauberhaft luftigen Blumenmädchenszene Kundrys "Parsifal!"-Ruf zu erwähnen, der alles verwandelt. Hier wird die Musik mit einem Mal fast unheimlich ernst, streift alles Veranstaltete, das Flirten der Blumenmädchen, mit einer Wendung ab.
Ist am Donnerstag in der Philharmonie Wagners während der Komposition des zweiten Aktes geäußerter Wunsch nach dem "unsichtbaren Theater" im auf szenische Andeutungen reduzierten Spiel der Sänger fast in Erfüllung gegangen, so war das Orchester umso sichtbarer.Es ist vielleicht das größte Wunder dieser Aufführung, wie Abbado die akustischen Besonderheiten des Bayreuther Festspielhauses nachzuahmen verstand: Zeichnet sich der Klang im abgedeckten Orchestergraben durch die perfekte Abmischung der Instrumente und weitgehende Verdeckung des technischen Zustandekommens aus, so hat Abbado den Berliner Philharmonikern ein Spiel abverlangt, in dem Ansatzgeräusche, die mechanischen Komponenten des Klanges, vollkommen eliminiert sind: Bruchlos wachsen die Töne aus der Stille heraus, vor allem die Blechbläser vollbringen ein schier unglaublich weiches piano, das die Verständlichkeit der Sänger in jedem Moment sicherstellt.
Hierin folgt in ebenfalls atemberaubender Weise der Rundfunkchor Berlin, dessen Männer vor allem ein faszinierend kerniges piano entwickelt haben. Weniger glücklich ist die Wahl des Tölzer Knabenchors für die Stimmen aus der Höhe gewesen: Nicht nur irritierte die klangliche Inhomogenität und die stets gefährdete Intonation, die Knabenstimmen bringen auch eine Direktheit in den Gesamtklang, die gerade in den Passagen, in denen sie mitwirken, von allen anderen Beteiligten vermieden wird. In den Hauptrollen war die Sängerbesetzung nicht unbedingt ideal: Robert Gambill als Parsifal und Linda Watson als Kundry bringen zwar stimmlich herausragende Leistungen gerade darin, jenseits des üblichen Gebrülls differenziert zu singen. Linda Watson aber liegen die jähen Brüche ihrer Partie nicht wirklich, sie bleibt stets eine Spur zu vorsichtig, wenn sie etwa das hohe H in "Ich sah ihn, ihn, und lachte" etwas von unten anschleift, statt es grell herauszuschreien. Gambill dagegen trifft das gewissermaßen Unbeschriebene der Parsifal-Figur zu Beginn gut, ist aber im dritten Akt dann wohl doch zu erschöpft, um bei Kundrys Taufe etwa einen anderen, innigeren Ton als den direkten seines arglosen ersten Auftritts anzuschlagen. Grandios dagegen die Fülle an Tönen, die Kurt Moll als Gurnemanz entwickelte: Die einzige Figur im "Parsifal", die keine Idee verkörpern muss, wuchs bei Moll zur Instanz des Menschlichen schlechthin, zum weisen Zeugen des Geschehens, der es mit uns, den Hörern, verbindet und einem Evangelisten gleich vermittelt.
Es ist ein Wunder der Aufführung, wie Abbado die akustischen Besonderheiten Bayreuths nachzuahmen versteht.