Abschied von Berlin


Abschied von Berlin

Berliner Morgenpost (2)

Berliner Morgenpost 21.April (1)


Erst Mensch und dann Maestro
Am 26. April gibt Claudio Abbado sein letztes Konzert in Berlin als Chefdirigent der Philharmoniker
Von Manuel Brug

Der Eindruck täuscht. Auch wenn Claudio Abbado, der scheidende Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, gern vergeistigt wirkt, kaum teilhabend am kulturpolitisch nicht selten kleinkarierten Alltagsgelärme, so weiß er doch genau, wie er seinen Abschied zu inszenieren hat. Der ist - noch einmal - eine für ihn typische Mischung aus Absolutheitsanspruch, Neugierde, pädagogischem Eros, strömender Musizierlust und befriedigter Bescheidenheit. Er verweigert sich dem groß zelebrierten Finale.

Januar 2001. Nach dem erschreckenden Jahreswechsel-Festkonzert, bei dem ein Schwerkranker ausgerechnet unter dem Motto «Musik ist Spaß auf Erden» Auszüge aus Verdis «Falstaff» dirigierte, folgt Ende Januar in einer erschütternden Aufführung dessen geistliches Gegenstück, das Requiem. Diese Konzerte schlagen eine Brücke zu einem weiteren Weltabschiedswerk, seinem ersten «Parsifal», den Claudio Abbado, durch die öffentliche Katharsis seiner Krebserkrankung gegangen und gestärkt, konzertant als seine finalen Auftritte im Jahr 2001 (und bei den Salzburger Osterfestspielen 2002) dirigiert.

Der zeitgenössischen Musik gegenüber - Luigi Nono und Wolfgang Rihm einmal ausgelassen - zeigt sich Claudio Abbado seit einigen Jahren abstinent. Er konzentriert sich auf Stücke, die ihm wichtig sind. Und das ist nach viel Spätromantik immer wieder auch die davor liegende Epoche. So zog er in diesem Februar Bilanz in einem Feld, das seine frühen Berliner Jahre beherrschte: Musik von Mendelssohn und Schumann.

Am 26. April endet nun diese Ära in Berlin mit einem der seltsamsten Programme, die sich ein scheidender Pultstar je ausgesucht hat: Brahms' herbem Schicksalslied für Chor und Mahlers Rückert-Liedern folgt Dmitri Schostakowitschs schlaggewitternde Filmmusik «König Lear». Ein Herrscher, allein gelassen von Verwandten und (fast) allen Vasallen, steht eingetrübten Geistes in der sturmgepeitschten Heide. Irgendwie passt dieser Berliner Abgang aber zu Abbados aufrechter, es nicht jedem Recht machenden, nur sich selbst verpflichteten Musikerpersönlichkeit. Wie es auch sinnhaft erscheint - die Berliner sehen das mitunter anders - dass er in Wien sein letztes Konzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker dirigieren wird. Neben dem steuerbaren Zufall solcher Tourneetermine mag auch Biographisches hierbei mitgespielt haben. Schließlich hat er dort den Grundstein seiner Karriere gelegt.

Orchester haben gute und schlechte Zeiten. CDs sind festgefügte, tote Klangdenkmäler, Institutionen aber leben, sind Organismen, die sich entwickeln. So wie von Herbert von Karajan als schönste Tat die Einrichtung der Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker bleibt, so wird an Claudio Abbado immer das Jugendorchester der Europäischen Gemeinschaft sowie das Chamber Orchestra of Europe erinnern; ebenso die Orchesterakademie in Ferrara. In Wien schließlich sitzt das von ihm ins Leben gerufene Gustav Mahler Jugendorchester, das auch bereits einen (in Berlin beheimateten) kammermusikalischen Bruder hat.

Auch hier galt: In jeder Position, die Claudio Abbado inne hatte, mehrte er nicht nur den eigenen Ruhm, sondern er war neben seiner musikalischen Leistung und Leidenschaft immer bemüht, Institutionen zu stärken. Von diesem Drang profitierten ebenso die Mailänder Scala (1968 - 86) wie auch das London Symphony Orchestra (1983 - 88). Und nicht zuletzt die Berliner Philharmoniker. Abbado, der die Berliner 1966 zum ersten Mal dirigiert hatte, demokratisierte und verjüngte das Orchester mit Vehemenz. Er erweiterte und modernisierte sein Repertoire, er setzte mit seinen thematischen, auch andere Künste miteinbeziehenden Reihen besonders in seinen ersten Berliner Jahren programmatische Maßstäbe.

Vor allem aber ließ er seine Musiker frei. Werke erarbeitete man gemeinsam, nicht als einsames Maestro-Verdikt. Nicht alle kamen damit klar, konnten sein langes Schweigen, das der Musik das Wort überließ, das miteinander auf ihr Geheimnis hören wollte, ertragen. Unruhe machte sich im Orchester breit, weil nicht jeder aktiver Mittäter statt nur passiver Exekutor sein wollte. Mancher sehnte sich wieder nach einem starken Mann, der anschafft und bestimmt.

Auch seine häufige Anwesenheit, einzigartig unter den Dirigenten seines Ranges und seiner Generation, wurde Abbado nicht nur gut geschrieben. Doch wie sehr die Saat aufgegangen ist, wie sehr sich dieser Klangkörper verändert und seine Ideen aufgesogen hat und wie von ihm als einem paradigmatischen europäischen Orchester des 21. Jahrhunderts Leitkulturelles zu erwarten ist, das zeigt dessen Votum für Simon Rattle als seinem Nachfolger.

Abbado wird nun die Berliner Philharmoniker als erster Musikdirektor lebend verlassen: als 69-Jähriger nach zwölf fast immer erfolgreichen Jahren. Weil es für ihn noch ein Dasein jenseits der Musik gibt, auf Sardinien oder im Schweizer Fextal, beim Segeln, Wandern, Lesen, Nachdenken. Denn bleibt auch Claudio Abbado einer der wichtigsten Dirigenten unserer Zeit, von dem wir noch Vieles, Schönes, Wertvolles hören werden, so will er doch stets erst Claudio heißen, Mensch sein - und dann Maestro.