Abschied von Berlin


Abschied von Berlin

Berliner Morgenpost (1)

Berliner Morgenpost 14.April 2002


Der Außenseiter siegt
Zum Abschied eines Chefdirigenten: Erinnerungen an die ungewöhnliche Wahl Claudio Abbados
Von Michael Horst

Die Ära von Claudio Abbado nähert sich dem Ende: Der Italiener wird als Chefdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters im Konzert am 26. April offiziell verabschiedet. Die Berliner Morgenpost erinnert mit einer Serie an die Höhen und Tiefen seines künstlerischen Wirkens in Berlin.


Als am 8. Oktober 1989 weißer Rauch aus der Siemens-Villa in Berlin-Lankwitz aufstieg, war die Überraschung perfekt. Das philharmonische Konklave hatte lange und unter Ausschluss der Öffentlichkeit getagt, doch letztlich hatte keiner der Favoriten um die Nachfolge Herbert von Karajans als Chefdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters das Rennen gemacht, sondern ein veritabler Außenseiter.

James Levine, Lorin Maazel, Daniel Barenboim, Zubin Mehta - sie alle wurden von den 120 Orchestermitgliedern nicht für würdig befunden, die Philharmoniker in die musikalische Zukunft zu führen. Stattdessen ein Italiener, dem Orchester seit immerhin 23 Jahren als Dirigent verbunden: Claudio Abbado, gebürtiger Mailänder und seinerzeit Musikdirektor der Wiener Staatsoper. Vom Orchestervorstand befragt, nimmt er - wird berichtet - «bewegt» die Wahl an. Per Telefon.

Es ist das erste Mal in der über 100-jährigen Geschichte des Orchesters, dass der Chefdirigent tatsächlich von den Musikern selbst gewählt wird. Mochte der Gründungsbeschluss anno 1882 auch ein aufsässig-demokratischer Akt gewesen sein: Der erste Chefdirigent, der gestrenge Hans von Bülow, hatte sein neues Amt dem einflussreichen Konzertveranstalter Hermann Wolff zu verdanken. Arthur Nikisch wurde ebenso durch einflussreiche kulturpolitische Strippenzieher auf seinen Posten gehievt wie Wilhelm Furtwängler. Und noch 1954, nach Furtwänglers überraschendem Tod, war es der damalige Philharmoniker-Intendant Gerhart von Westerman, der umgehend Kontakt mit Herbert von Karajan aufnahm. «Mit tausend Freuden» sagte dieser zu - und erhielt den geforderten Vertrag auf Lebenszeit.

Als im Herbst 1989, nach den endlosen Querelen mit Karajan, seinem Verzicht auf das Amt und seinem Tod im Juli desselben Jahres, die Neubesetzung des einflussreichsten musikalischen Postens, den Deutschland zu vergeben hat, anstand, war klar, dass die Berliner Philharmoniker diesmal auf ihrem Recht beharren würden, selbstständig zu entscheiden.

Sie wählten den Kontrast: Statt des glamourösen Karajan einen Italiener, der so gar nicht dem Klischee des temperamentsprühenden, geselligen Südländers entsprach. Außerdem hatten die Musiker aus der Vergangenheit gelernt: Der neue Chef sollte vorerst nur einen Sieben-Jahres-Vertrag erhalten - er wurde schließlich im August 1990, wenige Tage vor Abbados offiziellem Amtsantritt unterzeichnet.

Ein unbeschriebenes Blatt war auch Claudio Abbado bei seiner Wahl ganz und gar nicht. Mit seinen 56 Jahren konnte er bereits auf zahlreiche Chefpositionen verweisen, sei es beim London Symphony Orchestra oder an der Mailänder Scala. Er war in der Oper wie im Konzert gleichermaßen zuhause, und er war durch lukrative Verträge mit verschiedenen Plattenfirmen bestens auf dem Markt etabliert. Er beherrschte das gängige Repertoire der Klassik und Romantik. Aber mehr noch: Abbados musikalische Initiativen in Italien, seine Konzertzyklen in Wien hatten bewiesen, dass für ihn die Musik des 20. Jahrhunderts, die neue Wiener Schule ebenso wie Luigi Nono, György Ligeti oder Pierre Boulez, ein Teil des heutigen Konzertlebens ist.

Dennoch verließ Abbados Einstandskonzert als neuer Chefdirigent im Dezember 1989 kaum die traditionellen Bahnen: Schuberts «Unvollendeter» folgte nach der Pause Mahlers erste Sinfonie. Dazwischen schmuggelte Abbado ein vierminütiges Werk von Wolfgang Rihm. Damit wies er den Weg in die Moderne, den er als fünfter Chefdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters konsequent verfolgte.



POLLINI ENTSCHÄRFT BEETHOVEN
Von Klaus Geitel

Die Abschiedsstunden haben zu schlagen begonnen. Nur noch zwei weitere Programme wird Claudio Abbado mit seinen Philharmonikern aufführen, und wie dieses jüngste in der Philharmonie auch das bevorstehende mit den «Faust»-Szenen von Schumann für das Fernsehen: eine Abschiedsparade durch die Ehrenpforte des Bildschirms.
Dabei scheint sich Abbado mit Vorliebe Werken zuzuwenden, die das schwere Schicksal (destino) der Unpopularität tragen: In diesem Falle der «Chorphantasie» von Beethoven, mit Mauricio Pollini am Klavier, und dem «Lobgesang» von Mendelssohn Bartholdy: diesem Zwitter aus Sinfonie und Kantate, der den Herrn in seiner Größe und Güte aus allen vokalen Leibeskräften schier zu Tode lobt.
Dafür waren neben feinen Solisten wie der Sopranistin Karita Mattila mit ihrem hellstimmig klaren Jubel und Peter Seiffert mit seinem schier wundersam bleichen Tenor der Schwedische Rundfunkchor und Eric Ericsons Kammerchor, von Bo Wannefors einstudiert, aufgeboten. Luxuriöser geht's nimmer.
Aber wo blieb in Pollinis wackerer Beethoven-Darstellung der Furor der kompositorischen Absonderlichkeit, die alle bis dahin gültigen Formvorstellungen sprengte und sie ihren überrumpelten Zuhörern buchstäblich um die Ohren schlug? Beethoven saß allerdings damals selbst am Klavier und improvisierte drauf los. Aber noch Jewgeny Kissin hatte es schließlich verstanden, das unglaublich Explosive des Werkes mitreißend aufklingen zu lassen. Unter Pollinis Händen klang es eher klassisch verhalten: sozusagen wie eine Altmeister-Schrulle.
Natürlich war es musikdramaturgisch eine glänzende Idee, Mendelssohns «Lobgesang» und die «Chorphantasie» die beiden außenseiterischen, in kein Formkorsett passenden Werke zu einem Programm zu verschmelzen. Felix Mendelssohn Bartholdy freilich schlug den größeren Nutzen daraus. Claudio Abbado hob das sinfonische Vorspiel der Kantate, trotz all seiner Beiläufigkeiten, hinauf in die schiere Holzbläserseligkeit, und das war auch gut so, denn zuvor hatte sich das Blech peinlicherweise ziemlich unphilharmonisch artikuliert.
In den vokalen Schlussjubel stimmte am Ende, wer unter den Zuhörern genug Odem hatte, dann auch aufs Respektvollste ein.