Abschied von Berlin


Abschied von Berlin

Berliner Morgenpost (3)

Berliner Morgenpost 21.April (2)


Ciao Claudio
Dem einen ein Vater, dem anderen ein Rätsel: Sechs Philharmoniker über ihren Dirigenten. Aufgezeichnet von Kai Luehrs-Kaiser

Kindlich

Henrik Schaefer (33),
Bratscher bei den Berliner Philharmonikern seit 1992, Ausbildung zum Dirigenten, Assistent von Claudio Abbado seit 2000: «Im Dezember 2000 musste Claudio Abbado während des Japan-Gastspiels der Berliner Philharmoniker für einige Tage ins Tokioter Krankenhaus. Es war die Zeit nach seiner Krebs-Operation, und ich musste sehr kurzfristig die Proben zu «Tristan» übernehmen. Seit diesem Zeitpunkt gibt es eine Art Vater-Sohn-Verhältnis zwischen uns.

Im vergangenen Sommer fuhr ich zu ihm nach Sardinien, um den «Parsifal» musikalisch mit ihm vorzubereiten. Ich traf ihn in seinem Sommerhaus an einer Steilküste Sardiniens, das von Pflanzen überwuchert schien. Überall führten kleine Wege und Stege durch die Pflanzen, es machte fast den Eindruck eines Baumhauses. Abbados Arbeitszimmer war unterhalb des Hauses tatsächlich direkt in den Felsen eingegraben. Wir saßen dort eine Woche lang über der Partitur, fragten uns, wer die Figuren im «Parsifal» sind, was der Text bedeute und, sehr wichtig für ihn, wie eine musikalische Balance zu erreichen sei. Wo man abdämpfen müsse, wo Raum für Bewegung geschaffen werden muss und ähnliches mehr. Abbado sprach während dieser Tage sehr entspannt über alles Mögliche. Im August kam seine Familie, darunter drei Enkel, zu Besuch. Da habe ich Abbado als liebevollen Großvater kennen gelernt. Auch Abbado selbst hat sich bis heute die Fähigkeit bewahrt, alles wie ein Kind neu zu entdecken.

Wer beobachtet hat, wie Abbado während einer Solistenkadenz plötzlich die eigene, ausgestreckte Hand betrachtet, kann den Eindruck gewinnen, als begegne sich dieser Mann zum ersten Mal selbst. Es scheinen Momente intensiver Selbstwahrnehmung für ihn zu sein. Abbado genießt Konzerte wie eine Droge.»


Elegant

Madeleine Caruzzo,
1. Violinistin bei den Berliner Philharmonikern seit 1982: «Wer etwas über Claudio Abbado erfahren möchte, muss ins Konzert gehen! Ich kenne kaum einen anderen Dirigenten, der während einer Aufführung so sehr seine Gefühle äußern und sich öffnen kann. Dabei dreht es sich nicht bloß um Schlagtechnik. Abbado scheint mit seinem eleganten, plastischen und lockeren Dirigierstil alles ausdrücken zu können, was er will. Entscheidend ist aber, dass von ihm, wenn er vor uns auf dem Dirigentenpult steht, all jene Emotionen körperlich ausgehen, die wir zur Gestaltung der Musik brauchen: Trauer, Leichtigkeit, Melancholie. Abbado lebt das gleichsam vor, wodurch zwischen ihm und den Musikern im Konzert ein ungeheuer starker Kontakt entsteht.

Als ich 1982 ins Orchester eintrat, war ich (noch vor der Klarinettistin Sabine Meyer) die erste Frau bei den Berliner Philharmonikern. Heute sind 16 Frauen im Orchester. In der Arbeit mit Claudio Abbado fühlte man sich als Frau immer willkommen. Seinen Vorgänger als Chefdirigent, Herbert von Karajan, hatte ich zuvor als vordergründig autoritärer erlebt. Abbados Wille und auch Durchsetzungsfähigkeit sind allerdings nicht geringer als bei Karajan. Ich wünsche uns, dass Claudio Abbado noch oft ans Pult der Berliner Philharmoniker zurückkehrt.»


Emotional

Albrecht Mayer (36),
Solo-Oboist bei den Berliner Philharmonikern seit 1992: «Aus Claudio Abbados Konzerten bin ich immer so zufrieden herausgekommen wie noch bei kaum einem anderen Dirigenten. Es muss an Abbados sehr emotionalem Dirigierstil liegen. Er ist ein Mensch, der es bevorzugt, seine Gefühle nicht nach außen zu tragen - außer auf der Bühne.

Abbado war einige Zeit bekannt dafür, dass er im Konzert, also während er dirigierte, die Luft anhielt, bis sich die Anspannung mit einem Mal wieder löste. Er versetzt sich in eine musikalische Trance. Dies ist auch ein Teil seiner Wirkung auf uns Musiker. Wir würden im Konzert alles für ihn geben. Es kommt da ein Gemeinschaftserlebnis zustande, bei dem man sich niemals als ein bloßes Werkzeug des Dirigenten vorkommt. Abbado würde Applaus, glaube ich, niemals auf sich persönlich beziehen. Er verneigt sich auch nur sichtlich widerstrebend, indem er sich innerlich einen Ruck zu geben scheint, vor seinem Publikum - lieber gibt er den Beifall weiter an seine Musiker.

Selbst während der Proben spricht Abbado wenig. Glücklicherweise kann er alles demonstrieren, ohne etwas verbalisieren zu müssen. Er zeigt es mit den Händen. Ehrlich gesagt, empfinde ich seine Handbewegungen als pure Musik.

Abbado war sicherlich der erste Nicht-Autokrat am Chefpult der Philharmoniker. Ein Team-Player, dessen hervorragende Eigenschaft es ist, seine Musiker zu motivieren, in dem er ihnen künstlerische Mitverantwortung überträgt. Er ist nur ganz selten laut geworden. Einmal ist ihm das Orchester zu sehr auf die Nerven gefallen, und er glaubte wohl, sein sanfter Ton sei missbraucht worden, da hat er plötzlich unglaublich laut ,Ruhe!´ oder etwas dergleichen geschrieen. Alle waren bestürzt, entsetzt und natürlich sofort still. Ich hätte ihm wohl gewünscht, dass er häufiger so aus sich herausgegangen wäre.»


Ausgelassen

Dominik Wollenweber (34),
Solo-Englischhornist der Berliner Philharmoniker seit 1993: «Den Dirigenten Claudio Abbado, der von einigen Leuten als beinahe autistisch beschrieben wird, habe ich als überraschend ausgelassen erlebt. Auf einer Jugendorchestertournee durch Russland, bei der ich dabei war, bevor ich zu den Philharmonikern kam, haben einige Musiker nach Mitternacht Abbados Hoteltür mit einer Scheckkarte geöffnet. Es war sozusagen der Gipfel eines rauschenden Festes. Als Abbado, der sich längst schlafen gelegt hatte, aus dem zweiten Stock seiner Suite herunterkam, hat er sehr gelöst mit uns weitergefeiert und durchaus nichts übelgenommen. Nachdem zwei Stunden später der KGB erschien, um für Ruhe zu sorgen, ist er bis 5 Uhr morgens mit uns in die Hotel-Lobby hinabgegangen, um die Party nochmals fortzusetzen.

Da er sich für italienischen Fußball interessiert, durften wichtige Fußballspiele von Tourneeplänen des Orchesters niemals berührt werden.

Abbado hat nie perfekt Deutsch gesprochen, daher kursierte eine Weile lang sein Ausspruch ,Wäre möglich´ als ein Art ,running joke´ bei den Philharmonikern. ,Wäre möglich, piano´, das heißt bei Abbado so viel wie: Könnten Sie dies bitte piano (leise) spielen! Eines Abends, nach einer fulminanten Aufführung von Brahms' 3. Sinfonie in Ferrara, trat Abbado an unseren Tisch, um uns - zu unser aller Verwunderung - zu seiner bevorstehenden Hochzeit einzuladen. Abbado hatte in den letzten Jahren einen eher unliierten Eindruck auf uns gemacht, deshalb fragten wir: ,Wen heiratest du denn?´ ,Vera´, war seine sibyllinische Antwort. ,Vera Möglich...!´ Unter lautem Lachen hat Abbado die Geschichte dann noch an zahlreichen anderen Tischen erzählt.

Es war oft Abbados Eigenart, sich in gewisser Weise künstlich klein zu machen, sich selbst zu ironisieren. Etwas sphinxartig Rätselhaftes wird er auch für uns immer behalten. Es gab Probensituationen, in denen niemand wusste oder verstand, was Abbado wirklich wollte. Diese gleichsam neblige Situation zeigte aber, wie sehr Abbado selbst ein Suchender ist.»


Zäh

Peter Riegelbauer (46)
, Kontrabassist bei den Berliner Philharmonikern seit 1981: «Claudio Abbado habe ich als einen stillen, sanften Menschen kennen gelernt, bei dem alles, was er in Bewegung setzt, niemals mit einem Paukenschlag, sondern immer verhalten in Gang gesetzt wird. Etwas im Stillen gedeihen lassen, das ist seine Art der Durchsetzung. Ein Mann des langen Atems, das bedeutet: ein ebenso bedächtiger wie im Grunde zäher Mensch. Gewiss auch ein Einsamer, der niemanden - außer vielleicht die eigenen Kinder - ganz nah an sich heranlässt. Von seiner Einstellung her ist Abbado ein Humanist und ein hundertprozentiger Idealist. Abbado existiert ohne eigentliche Beziehung zum Geld und zu den so genannten Niederungen der Realität. Dass etwas aus äußeren, materiellen oder administrativen Gründen nicht realisiert werden kann, ihm das zu vermitteln war - auch für mich als Orchestervorstand - nicht immer leicht und setzt ein hohes Maß an Diplomatie voraus.

Vor vier Jahren hat Abbado uns gesagt: ¸Es gibt für mich noch ein Leben nach den Philharmonikern.´ Da war uns zunächst nicht klar, ob dies noch vier wirklich gute Jahre werden könnten. Das Vertrauen, das er uns dann aber entgegengebracht hat, jenes Gefühl, das er uns im Konzert vermittelte: Es wird gut werden!, hat uns in beinahe mysteriösem Ausmaß beflügelt und zu den wohl besten Konzerten inspiriert. Der Klang der Philharmoniker ist unter Abbado transparenter, unser Spiel flexibler und spontaner, das dynamische Spektrum des Orchesters noch größer geworden.»


Locker

Stefan Dohr (36)
, Solo-Hornist bei den Berliner Philharmonikern seit 1993: «Mein erster Eindruck von Claudio Abbado als Dirigent: Ich schaute zu ihm hin und wusste nicht, woran ich war. Das Orchester zum Beispiel spielte immer hinter dem Schlag, das heißt etwas verzögert, verspätet gegenüber dem Einsatz. Ich war das nicht gewohnt und gewann den Eindruck eines freundlichen, aber in seinen Anweisungen etwas unbestimmten Dirigenten. Später erst habe ich begriffen, dass Abbado den Musikern durch seine Bewegungen - fast wie im Fußball - nur zeigt, wohin sie spielen sollen. Also die Richtung anzeigt, die der Ball nehmen soll. Im Vergleich zum Fußball macht Abbado das allerdings wunderbar elegant. Er lässt dem einzelnen Musiker sehr viel Freiheit. Dazu passt, dass er stets locker im Umgang ist und mit jedem Musiker auch ohne Voranmeldung spricht. Er steigt auf Reisen meistens im selben Hotel ab wie wir und kann auch mal gesellig sein.

Nachdem in den zwölf Jahren seiner Ära das Orchester zu etwa 60 Prozent altersbedingt neu besetzt wurde, hat er den Generationswechsel der Berliner Philharmoniker vollzogen und neue Musiker integriert. Wenn man bedenkt, dass vor 20 Jahren die Musiker noch in Schlips und Kragen zu den Proben erschienen, hat der weit mehr auf Kooperation als auf Autokratie setzende Abbado die Berliner Philharmoniker eigentlich ins 21. Jahrhundert geführt.»