Abschied von Berlin
Abschied von Berliner

Tagesspiegel

Tagesspiegel, 15.April


Claudio Abbado wurde nach seinem letzten Konzert als Chef der Berliner Philharmoniker am Montagabend im Wiener Musikverein mit tobendem Applaus und Blumen des Orchesters bedacht. Der ursprünlich geplanten symbolischen Taktstock-Übergabe an seinen Nachfolger Simon Rattle verweigerte sich Abbado dagegen ebenso wie jeglichen Foto- und Fernsehaufnahmen. Tsp


Tagesspiegel, 13.April



Die Premiere des Asketen

Auf der Abschieds-Tournee durch Italien wird er gefeiert wie ein verlorener Sohn: Die Ära Claudio Abbado geht zu Ende. Heute dirigiert er sein letztes Konzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker - in Wien

Frederik Hanssen

An diesem Morgen im Hotel Excelsior in Neapel reibt sich der Kritiker die Augen. Nicht, dass er übernächtigt wäre - doch sind das wirklich die Berliner Philharmoniker, die hier beim Frühstück sitzen? Dieser bunte Haufen junger Leute? Was auf den ersten Blick wirkt wie eines jener Ensembles für Spitzennachwuchs, die Claudio Abbado gegründet hat, ist tatsächlich das Edelorchester der deutschen Hauptstadt. Zumindest der jüngste Teil von ihm. In den 12 Jahren der Ära Abbado sind 70 neue Musiker ins Orchester aufgenommen worden. Fast die Hälfte ist unter vierzig.

Trotzdem haben die Philharmoniker ihre Identität nicht verloren. Ihr Ton ist flexibler geworden, offener, neugieriger. Nicht mehr ganz so sehr auf Schönklang geeicht wie zu Karajans Zeiten. Mit diesem Orchester geht alles: Moderne und Klassik, Mozart, Mahler, Messiaen, ja sogar Barock. Weil die Jungen in ihrer Ausbildung gelernt haben, mit unterschiedlichsten Stilen, Spieltechniken und Interpretationsansätzen umzugehen. Und weil sie Respekt vor den altgedienten Profis haben.

Der Generationswechsel bei den Berliner Philharmonikern vollzieht sich nicht als feindliche Übernahme, sondern als Evolutionsprozess. Ganz im Sinne von Claudio Abbados Arbeitscredo: Zusammen musizieren. In diesem Orchester denken die Musiker nicht nur an sich und ihren Part, sie hören auf den Nebenmann, die anderen Stimmgruppen - und lernen so voneinander: die Debütanten von den Routiniers, die Streicher von den Bläsern, der Dirigent vom Orchester.

Bei der Abschiedstournee Abbados mit den Berliner Philharmonikern durch sein Heimatland Italien wird der Dirigent von einer Welle der Sympathie überrollt. Keine leichte Herausforderung für den introvertierten Maestro: Abbado ist keiner, der auf sein Publikum mit offenen Armen zugeht, im Gegenteil. Sein letztes Berliner Programm gestaltete er bewusst unfeierlich, als wolle er eine Umarmung durch seine Fans unbedingt vermeiden.

Die Ära Abbado, das sind vor allem die Zyklen, beginnend mit Hölderlin 1993 über Faust, die Antike, Shakespeare, Büchner, das Wanderer-Motiv, schließlich Liebe und Tod, "Musik ist Spaß auf Erden" und Parsifal. Genreübergreifende Themenkomplexe, getragen vom enormen literarischen und kulturgeschichtlichen Wissen des Dirigenten. In den italienischen Zeitungen findet man immer wieder ein Adjektiv, wenn es um Abbados geistig-ästhetische Verwurzelung geht: mitteleuropeo. Die Basis seines Denkens ist der Humanismus, aus dem eine gesellschaftspolitische Haltung erwächst, das sich in der Freundschaft zu Luigi Nono manifestierte und in der Konseqeunz, mit der er in den siebziger Jahren die Oper in Mailand für alle öffnete und später in Wien die Moderne in die klassischen Konzertsäle trug. Sein Bewusstsein bestimmt unser Fasziniert-Sein.

Der Vordenker Claudio Abbado erwartet vom Publikum ebenso eine eigene Arbeitsleistung wie von den Musikern: Nicht nur zum Genießen sollen die Leute ins Konzert kommen, sondern zum Mitdenken. Applaus wird da zum lässlichen Beiwerk. Die schönsten Momente sind für Abbado stets die Sekunden der Stille nach dem Verklingen des letzten Tons.

Wenn aber in Palermo, in Neapel und Ferrara der Blumenregen aus allen Logen auf die Bühne niedergeht, wenn Abbado immer wieder herausgerufen wird, nachdem die Musiker längst in ihre Garderoben verschwunden sind, dann merkt man ihm an, dass die Fans ihm bei aller Konzentration auf die Sache keinesfalls gleichgültig sind. Ihre Ovationen rühren ihn zutiefst.

Nachdem so mancher in den schweren Monaten nach der Krebs-Operation Abbado bereits insgeheim addio gesagt hatte, ist es nun ein frohes "Lebewohl", das diese Tournee begleitet. Da tritt ein Mann auf, mager und hager zwar, gezeichnet von der Krankheit, aber einer, der auf faszinierende Weise die innere Kraft eines Asketen, eines Eremiten ausstrahlt. Weit und ausholend sind die Handbewegungen, sowohl mit der Rechten, die nach operationsbedingten Eingriffen jetzt wieder voll funktionstüchtig ist, als auch mit der Linken, die er mehr nutzt als früher. So wie seine Landleute ihre Rede gerne mit expressiver Gestik unterstreichen, modelliert Abbados linke Hand die Musik, ermuntert die Musiker zur Emotion, fordert atmosphärische Dichte.

Die Werke, die er - nach den Hits von Beethoven, Dvorák und Brahms beim Europakonzert in Palermo - seinen Landsleuten zumutet, sind harte Kost: Mahlers Rückert-Lieder und dessen 7. Sinfonie, Schönbergs "Pelléas und Melisande". Eine Programmauswahl all'Abbado. Was in Berlin anpruchsvoller Alltag ist, in Neapel und Florenz, Ferrara, Brescia und Turin wirkt es kompromisslos, geradezu exotisch.

Und so klingt Mahlers Siebte im legendären neapolitanischen Belcanto-Tempel des Teatro San Carlo denn auch wie Musik von einem anderen Planeten. Es ist heiß im Saal, eng auf der Bühne, das hohe Blech kämpft mit der Intonation. Klanggebirge türmen sich auf, erscheinen zunächst unüberwindlich. Doch dann entfaltet sich diese Wahnsinnsmusik in ihrer Zerrissenheit zwischen Dekadenz und Archaik. Fratzenhafte Märsche wechseln mit duftigen Naturstimmungen, Holzbläser und Streicher dialogisieren in einer fremden, wundersamen Sprache.

Natürlich klingelt ein Telefonino in die leiseste Stelle hinein, aber der allergrößte Teil der Zuhörer bringt eine Konzentration auf, die hier nicht alltäglich ist. Vom Dauerkrach hupender Autos, röhrender Vespas und lautstarker Straßenverkäufer auf der Piazza vor dem Theater zur Pianissimo-Intimität der Rückert-Lieder - auch akustisch ist das ein weiter Weg.

Das Leitmotto des Werks, "Ich bin der Welt abhanden gekommen", spricht Abbado aus der Seele. Behutsam, als sei's ein Selbstgespräch, horcht er den Tönen nach - und die Philharmoniker legen der Solistin Waltraud Meier die Musik wie einen hauchzarten, silbrigen Weltenmantel um die Schulter. Man mag die gefeierte Wagner-Interpretin in diesem Werk für eine Fehlbesetzung halten. Aber sie gestaltet die bittersüßen Verse auf ihre Weise: mit der Präsenz der Diva, nicht ohne Manierismen, doch höchst wirkungsgewandt, wie eine Jahrhundertwende-Version von Isoldes Liebestod.

Jugendstil pur ist auch Arnold Schönbergs Frühwerk "Pelléas und Melisande" von 1903. Die Italiener nennen diese luxurierende Ästhetik stile liberty. Die Freiheit, das tonale System zu sprengen, nahm sich Schönberg erst Jahre später. In den Metamorphosen über Maeterlincks Drama zeigt Abbado den Erfinder der Zwölfton-Technik als Suchenden, der alle musikästhetischen Strömungen virtuos amalgamiert und doch überall nur an Grenzen stößt, in Sackgassen gerät. So üppig der Sound changiert, so herrlich die Tutti-Passagen aufblühen, Abbado hütet sich in Florenz davor, im Klang zu baden: Immer pulsiert hier die Zukunft unter der verführerisch schillernden Oberfläche.

Zwei Tage später, in Ferrara, gelingt das Stück viel theatraler, als handelte es sich um Skizzenmaterial zu einer "Pelleas"-Oper. Spätestens hier wird klar, dass auf einer Tournee jeder Abend eine Premiere ist. Die kurze vormittägliche Probe muss reichen, um das Riesenensemble auf der oft zu engen Bühnen unterzubringen und sich auf die Akustik des Saales einzustellen.

Auch in Berlin, wo die Konzertprogramme stets dreimal hintereinander gespielt werden, klängen die Stücke an jedem Abend einen Hauch anders, werfen die echten Abbado-Fans ein, die sich keinen Auftritt des Maestro entgehen lassen. Ihre Web-Site heißt: abbadiani itineranti - Abbado-Fans auf Wanderschaft, und einige von ihnen begleiten ihr Idol tatsächlich auf der gesamten Tournee - wie stille Schatten. Im Rampenlicht dagegen stehen die Prominenten, die überall auftauchen: In Neapel umarmen sich der presidente der linken DS-Partei, Massimo D'Alema, und Oscar-Preisträger Roberto Benigni demonstrativ in der Königsloge. Der Schauspieler ist ein alter Abbado-Freund - und will nicht ausschließen, dass beide demnächst zusammenarbeiten werden. Eine Neuigkeit verrät auch Mario Martone, Theaterintendant aus Rom, am Rande: Die "Così fan tutte"-Produktion, die er mit Abbado 1999 in Ferrara herausgebracht habt, ist von Fidel Castro nach Cuba eingeladen worden. Abbado höchstselbst will die Mozart-Oper 2004 dirigieren.

Wo immer der Maestro und die Berliner auftauchen, bringen die Zeitungen Fotos auf der Titelseite und lange Vorberichte. Jeder Abend ist ein gesellschaftliches Ereignis, jedes Detail auf und hinter der Bühne wird registriert. In Neapel erklärt man das Konzert zum ersten Teil eines virtuellen Duells der beiden "Könige der Musik" ("La Repubblica"), weil drei Tage später Riccardo Muti mit dem Orchester der Mailänder Scala im San Carlo auftritt. In Florenz sitzt Abbados Studienfreund Zubin Mehta im Saal, in Ferrara raunt man sich zu: "Hai visto Nuria?" und meint damit die Tochter Arnold Schönbergs (und Witwe Nonos), die ebenso gekommen ist wie Marina Mahler, Enkelin des anderen Komponisten dieses Abends.

Extra angereist ist auch ein Musikkritiker des "Corriere della sera". Der Erscheinungsort der wichtigsten italienischen Tageszeitung steht nämlich nicht auf dem Tourneeplan: Seit Abbado Mailand im Streit verlassen hat, meidet er die Stadt weitgehend. Ein zweiter "Corriere"-Kritiker berichtet derweil aus Wien, wo Sir Simon Rattle gerade seinen Beethoven-Zyklus mit den Wiener Philharmonikern präsentiert. Er wird am heutigen Montag auch Zeuge des allerletzten Konzertes von Claudio Abbado als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker sein. Zwischen zwei Aufführungen von Beethovens Neunter mit Rattle und den Wienern geben Abbado und die Berliner im goldenen Saal des Musikvereins ihr Mahler/Schönberg-Programm. Am Ende des zweiten Abends wird der Italiener dann den Taktstock symbolisch an seinen britischen Nachfolger weiterreichen. Eine Staffelübergabe in aller Freundschaft.

Dass dieses in der Geschichte der Philharmoniker einmalige Ereignis ausgerechnet in Wien stattfindet, in der Heimatstadt des schärfsten Konkurrenten um den Titel "bestes Orchester der Welt", ist nicht nur kurios - es hat auch viele Berliner Abbadiani verärgert. Denn sie wären gern dabei gewesen. Andererseits: Das Selbstbewusstsein, mit dem sich die Philharmoniker im Ausland bewegen, kann die heimischen Fans stolz machen. Nach dem Motto: Mag Wien die Metropole mit der größten Musiktradition sein, der weltläufigste Klassik-Klang kommt eben doch aus Berlin.