Abschied von Berlin


Abschied von Berlin

Tagesspiegel

Tagesspiegel, 26.April


26.04.2002
Kein Gott, nirgends

Claudio Abbados rätselhafter Abschied vom Berliner Publikum

Ulrich Amling

Nahe ist er uns gekommen in letzter Zeit. Aufgetaucht hinter dem rätselhaften Standbild des Maestro. Vor seinem letzten Berliner Konzert als Chef der Philharmoniker wandelt das Publikum im Foyer vorbei an gewaltigen Fotos des Dirigenten. Mit gedämpfter Stimme spricht es von "Claudio", und scheint bereit, die in 12 Jahren gewachsene Vertrautheit und Verehrung in ein spätes Liebesbekenntnis einzutauschen. Doch Abbado, der sich als erster philharmonischer Leiter dazu entschloss, dieses Amt nicht bis zum Tode zu bekleiden, hat eine andere Dramaturgie des Abschieds erdacht. Nüchtern verzeichnet eine Extra-Ausgabe der "Philharmonischen Blätter" jedes Abbado-Konzert, listet Themen-Zyklen auf. Bloß keinen Nachruf zu Lebzeiten, keine Umarmungen, keine Tränen. Das Programm des Abends verzichtet auf die großen Erfolge der Ära Abbado. Es zeigt den entspannt wirkenden Maestro als Meister der intellektuellen Distanz, der exquisiten Weltferne, und auch der kalkulierten Enttäuschung.

"Doch uns ist gegeben / Auf keiner Stätte zu ruhn" klagt Hölderlin in seinem "Schicksalslied", während Brahms in seiner glättenden Vertonung der Verse durchscheinen lässt, dass Gleichmaß für den Menschen durchaus vorstellbar ist. Abbado aber umkurvt Klagegeste wie Harmoniestreben und entdeckt das Ruhelose, Unbeheimatete als Chance, neue Wege zu finden. Die Stimmen des Schwedischen Rundfunkchors und des Eric Ericson Kammerchors schweben wie der Geist über den Wassern. Nach der sanften Absage ans Heroische, nimmt Abbado in Mahlers Rückert-Liedern die Orchesterstimmen subtil zurück, soweit die Virtuosität seiner Musiker ihn trägt. Diesem zarten Schwingen scheint keine Grenze zu gelten. So abgeklärt hat man "Ich bin der Welt abhanden gekommen" lange nicht gehört. Gemeinsam mit Waltraud Meier gelingt ein flüchtiges Wunder der Reduktion.

Verstörend der zweite Teil des Konzerts, der Schostakowitschs Musik zum "King Lear"-Film von Grigori Kosinzew (1970) ausrollt: Versprengtes Volk wühlt sich durch graue Landschaften, die Fanfaren stoßen apokalyptische Signale aus, kein Gott lässt sich sehen. Lear hadert anderthalb Stunden lang, Abbado ordnet das uniforme Donnergrollen. Mehr eine Geste, denn die Entdeckung wirklich großer Musik. Lear fällt auf falsche Liebesbekundungen herein, Abbado entwischt den feierlichen Gesten, indem er den Sympathiebekundungen seines Publikums die Richtung nimmt. Er verschwindet lächelnd bis zum Wiedersehen im Januar 2004. Manch einer blickt ihm ratlos hinterher.