SALZBURG 2001

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Salzburg 2001

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Tagesspiegel 9. April 2001

Salzburger Osterfestspiele: Armer Ritter im Weckglas

Claudio Abbado und die Furcht vor der Erregung

Christine Lemke-Matwey


Gülden und satt funkelt der Farn in der Frühe. Die liebe Sonne leckt letzte Tautröpfchen von den Blättern, schläfrig torkeln Ameisen und Käfer ihrem sommerlichen Tagwerk entgegen. War die Welt je friedlicher, erbaulicher? Doch horch, da raschelt es im Unterholz: Ein mächtiges Geweih bricht durchs Gezweig, weiche Nüstern blähen sich. Da steht er in seiner ganzen Schönheit, der Hirsch, der König des Waldes, und gebietet über den frischen Morgen.

Verdis "Falstaff" steht auf dem Programm der diesjährigen Salzburger Osterfestspiele, die humorig-schrullige Summe eines einzigartig erfolgreichen Opernkomponistenlebens, das hedonistische Credo eines 80-Jährigen und, nicht zuletzt, wohl der befreiende Schritt aus dem leidigen Buffa-Schatten Rossinis - und schon das Saisonplakat verheißt wenig Gutes. Außerdem regnet's im Salzburger Land Schnürln, was die vorösterliche Laune nicht eben hebt. Abgesehen davon nämlich, dass das oben beschriebene Idyll auf "Falstaff" ebenso gut oder schlecht zutrifft wie auf E. T. A. Hoffmanns "Undine" oder Marschners "Hans Heiling" und just Verdis Lyrische Komödie doch alles andere ist als eine märchenhaft verbrämte deutsche romantische Oper, abgesehen von diesem ästhetischen Missgriff erweist sich das Ganze (und insofern ist das Plakat programmatisch!) doch sehr schnell als sehr platt.

Ärger noch: Salzburg zu Ostern war und ist und bleibt seit Karajan selig offenbar etwas für eingefleischte Musik- und Mottenkistenliebhaber (die Kartenpreise bis zu 1000 Mark sorgen hier für eine ganz natürliche Auslese). Prompt jedenfalls und zum jauchzenden Pläsir des Publikums kroch Ruggero Raimondi alias Falstaff im dritten Akt auf allen Vieren unter einer recht mittelalterlich anmutenden Eiche herum ("mezza notte"), ein Hirschgeweih auf dem Schädel und einen wattigen Theaterwanst um den Sängerleib geschnürt. Sir John, den Shakespeare noch drastisch "Wurstberg" schimpfte, als der kapitale Bock und ewige Potenzmeier, der am Ende, nach Wäschekorb und "philosophischer" Fuge, selbst die allergrößten Hörner davonträgt? Solche Binsenweisheiten, wenn sie wörtlich genommen werden und nichts weiter als das, kann der geneigte Operngänger heute jedem x-beliebigen Opernführer entnehmen. Ganz ohne viel Geld und lausigen Schnürlregen.

Nachdem in den vergangenen Jahren vornehmlich Regie-Ältere wie Peter Stein oder Klaus Michael Grüber mit steifen Knochen das Zepter schwangen, griff Claudio Abbado als Künstlerischer Leiter des Festivals nun entschlossen ins Offene: Declan Donnellan hieß der Regisseur, über den kaum mehr in Erfahrung zu bringen war, als dass er aus London und ein Shakespeare-Spezialist sei. Nämliches musste auch für Nick Ormerod, den Ausstatter, gelten, der sich in allerlei elisabethanischen Anspielungen erging: viel Fachwerk, viel geschorenes Grün, großflächige Prospekte. Gern stellten die Figuren da mindestens einen Fuß auf den Soufleurkasten. Die Angst des Maestros vor der Dreidimensionalität des Theaterraums?

Der unumschränkte Höhepunkt des Abends an Humor ereignete sich nach der Pause. Kaum war Raimondi auf einer Leiter dem Orchestergraben entklommen und hatte ihm ein Berliner Philharmoniker, hi hi, sein pitschnasses Haarteil nachgereicht, da ließ sich der Alte in seiner Strampelhose doch tatsächlich, ho ho, auf den Rücken fallen ("mondo ladro") und spuckte eine deutlich sichtbare Fontäne Themsewasser aus. Nicht, dass Ruggero Raimondi sich bei dieser Aktion sonderlich verausgabt hätte: Seinem Bassbariton aber fehlten für die Partie von Anfang an die nötigen sonoren Tiefen und jene Wollust, jener sängerische Eros, der allein aus dem Bauchnabel kommt. Andererseits wollte er partout keinen Greis geben, dessen raue Falsetttöne, dessen Kurzatmigkeit im Phrasieren uns gewiss einiges Mitleid abverlangt hätten.

Im Dazwischen freilich, in seiner Neutralität und gestalthaften Blässe fügte sich dieser Falstaff nahtlos in die übrige Sängerschar. Die beiden angebaggerten Frauen (Carmela Remigio als Alice, Stella Doufexis als Meg) blieben in Witz und Widerstand unspezifisch, die allesamt irgendwie gehörnten Männer (Lucio Gallo als Ford, Enrico Facini als Cajus, Anthony Mee als Bardolfo, Anatoli Kotscherga als Pistola) frönten den landläufigen Klischees ihrer selbst. Einzig Larissa Diadkovas Quickly ließ - so sie nicht gerade dämlich in der Ecke saß und strickte - mit profundem Alt etwas von dramatischer Rhetorik ahnen, von jenem hastig-nervösen Parlando, das Verdis späte Komödianten hier vor allem anderen auszeichnet. Und auch das mit Tennisschlägern bewaffnete Liebespaar (Dorothea Röschmann als glockenhelle Nannetta, Massimo Giordano als schmachtender Fenton) wusste sich zumeist mit lyrischer Verve gegen die Tücken des einmal mehr viel zu großen Großen Salzburger Festspielhauses zur Wehr zu setzen.

Hoch lebe Opas Oper: Dass die Szene diesem Schlachtruf folgen würde, war (fast) zu erwarten und tat (fast) nicht weiter weh. Dass indes auch Claudio Abbado und die Berliner Philharmoniker enttäuschten, schmerzte, ja erschreckte. Abbados "Falstaff" an der Berliner Lindenoper vor ein paar Jahren eilten Hymnen nach und voraus, die Philharmoniker als Opernorchester versprechen stets besondere Sorgfalt und die Liebe zum Extraordinären. Was also war geschehen, dass ausgerechnet der späte, rätselhaft zerklüftete, nach unbekannten fernen Sternen greifende Verdi unter Abbados Händen bloß verbindlich, bloß versöhnlich und meistbietend glatt gestriegelt klang?

Vielleicht war es dies: Indem Abbado die Partitur konsequent mit dem Florett ausfocht, indem er seinen Musikern ein absolutes Höchstmaß an Virtuosität und Präzision und Souveränität abverlangte und der Klangoberfläche einen merkwürdig stählernen, ja preußischen Glanz verlieh - verschloss er vor den schlummernden Abgründen dieser Musik seine Augen und Ohren, leugnete er jede weitere Erregung, alles Melancholische. Verdi im elfenbeinernen Turm seiner selbst, Verdi im Weckglas und auf höchster Qualitätsstufe gefriergetrocknet? Und nur das Lyrische nicht zu schwelgerisch, bloß kein Herzblut vergießen!

Zur Fuge und kurz bevor der letzte Aktschluss triumphal niederkrachte, ließ Regisseur Donnellan eine riesige, abendmahllängliche Tafel auffahren. Es folgte: der allgemeine Sturm aufs kalte Buffet. Wie gerne hätten wir uns mitgekloppt - um Lust und Liebe und ein klein wenig Grusel im weiten Wald von Windsor!

Giuseppe Verdi
Falstaff -
European Festival Chorus
Regie: Declan Donnellan
Bühnenbild und Kostüme : Nick Ormerod

Sir John Falstaff: Ruggero Raimondi
Ford: Lucio Gallo
Fenton: Massino Giordano
Dr. Cajus: Enrico Facini
Bardolfo: Antony Mee
Pistola: Anatoli Kotscherga
Mrs Alice: Ford Carmela Remigio
Nanetta: Dorothea Roschmann
Mrs Quickly: Larissa Diadkova
Mrs Meg Page: Stella Doufexis

Berliner Philharmoniker
Dirigent: Claudio Abbado