Wanderer's Erzählungen



Mai 2002: Tournee in Italien und Wien


Der Wanderer in Italien
Einer unserer Wanderer konnte die Italien-Tournee verfolgen: er berichtet


Der Wanderer hatte das einmalige Glück, die letzte Tournee von Claudio Abbado und den Berliner Philharmonikern verfolgen zu können. Sie führte von Palermo über Neapel, Florenz, Ferrara, Brescia und Turin nach Wien. Dabei war es ihm nicht nur vergönnt, herrliche Konzerte zu hören, sondern er konnte auch italienische Städte und Leute kennen lernen. Unnötig zu betonen, dass er diese Erfahrung nie vergessen wird.

Schon der Empfang in Palermo war wunderbar. Die Stadt sprüht vor Leben, und man hat das Gefühl, dass hier eine ganze Bevölkerung nach einem langen Schlaf wieder auflebt und Versäumtes nachholen will. Das Teatro Massimo, das die Berliner Philharmoniker bereits vor fünf Jahren wiedereröffnet haben, strahlt in der Sonne und besticht durch seine gute Organisation. Die Generalprobe wird zu einem richtigen Konzert umfunktioniert, und vor einem vollen Saal wird der Abend zu einem Triumph. Abbado ist entspannt, aber gleichzeitig enorm konzentriert. Man hat das Gefühl, dass er erleichtert ist, den offiziellen Abschied von Berlin hinter sich gebracht zu haben und sich nun einzig und allein auf die Musik konzentrieren kann. Er hat ja wiederholt betont, wie gerne er in Palermo ist und darauf hingewiesen, dass seine Mutter sizilianischer Abstammung war. Die Stimmung an diesem Abend ist so gut, dass viele im Zuschauerraum bedauern, dass dies nicht das Konzert ist, das ausgestrahlt wird. Aber sie täuschen sich: am nächsten Vormittag wird alles genau so schön, wenn nicht sogar noch besser. Orchester, Chef, Publikum – alle sind wie berauscht und alles gelingt vollendet. Man weiß gar nicht, was man am meisten loben soll! Die Freude aller, Musik zusammen zu machen, das berühmte Zusammenmusizieren und das schöne Programm (Beethoven, Egmont-Ouvertüre; Brahms, Violinkonzert; Dvorak, Symphonie Nr. 9, Aus der Neuen Welt sowie die Ouvertüre zur ?Sizilianischen Vesper? von Verdi als Verbeugung vor dem Ort) überträgt sich auf alle im Saal sowie (der Wanderer konnte es später überprüfen) auf den Bildschirm.

Die nächste Etappe ist Neapel, wo Waltraud Meier sich dem Orchester anschliesst. Dem Wanderer war bereits oft die Schönheit des Teatro San Carlo gepriesen worden. Nun hatte er die Gelegenheit, sich selbst davon zu überzeugen. Das anspruchsvolle Programm (Mahler: Rückert-Lieder sowie die 7. Symphonie) wird beeindruckend gespielt, aber man hat das Gefühl, dass das Publikum an solche Kost nicht gewohnt ist.

Auch in Florenz herrscht dieser Eindruck vor. Die Rückert-Lieder sind an diesem Abend besonders bewegend, aber ein Zuschauer kann sich nicht beherrschen und klatscht in den letzten Ton von ?Ich bin der Welt abhanden gekommen?? hinein, wo wir alle an eine lange, konzentrierte Stille gewohnt sind. Entsetzen bei Orchester, Dirigent und einen Teil des Publikums. Die ganze Stimmung ist mit einem Schlag dahin. Schönbergs ?Pelléas und Mélisande? nach der Pause wird noch darunter leiden.

Gut, dass die nächste Stadt Ferrara ist, wo man sagen kann, dass Abbado und die Berliner ein ?Heimspiel? haben. Gleiches Programm, aber eine vollkommen andere Stimmung: Beweis, dass sich ein Publikum sehr wohl erziehen lässt? Die Rückert-Lieder sind von einer beklemmenden Dichte und Intensität, die Rührung ist gross und am Ende schweigen die Zuschauer lange. Mit Ausnahme von den Aufführungen in Berlin gelingen hier diese Lieder am eindruckvollsten. Ähnlich mit ?Pelléas??. Das Orchester spielt, als ob es um sein Leben ging. Die Freude, die Angst, das Leiden, die Trauer – alle Emotionen die dieses Stück auslöst spiegeln sich in jedem einzelnen Musiker und – angeführt von einem Chef, der über sich hinauswächst gelingt eine einzigartige Interpretation. Und auch hier, o Wunder, bleibt das Publikum am Ende vor Rührung lange still. Herrlich!

Das Teatro Grande von Brescia, das den Wanderer auf seiner nächsten Etappe erwartet, ist ebenfalls sehr schön, aber macht seinem Namen keine Ehre, denn es ist eher klein. Es bedarf schon einer grossen Kunst, um alle Musiker, die für eine 7. Mahler benötigt werden, auf dieser Bühne unterzubringen. Trotzdem gelingt hier eine ungemein dichte, konzentrierte und beseelte Aufführung dieser Symphonie. Die Wiedergabe vom 6.5.2001 in Berlin wird nie ihresgleichen finden, aber auch dieser Abend wird Eingang in den Annalen finden.

Die letzte Stadt auf dieser Italien-Tournee, der somit eine besondere Bedeutung zukommt, ist Turin. Oft schon haben Abbado und das Orchester hier konzertiert und großartige Aufführungen geboten. Der Wanderer weiß, dass die Berliner froh waren, wieder in einem modernen Konzertsaal zu spielen, denn dieser gibt ihnen mehr Platz auf der Bühne, auch wenn die italienischen Theater unglaublich schön sind. Der Wanderer aber war vom Lingotto enttäuscht: er fand den Saal kalt und war von der Akustik nicht berauscht. Zum ersten Mal geschieht das Unglaubliche: der Wanderer ist weder von den Rückert-Liedern noch von der 7. Mahler berührt. Er glaubt, dass dies eher am Saal als am Orchester liegt, aber er ist auf jeden Fall sehr betrübt darüber. In dieser traurigen Stimmung verlässt er Italien?

Somit nähern wir uns der letzten Station dieser Reise: Wien.
Seit über einem Jahr fragt sich der Wanderer, wie er diese zwei, hoch emotionalen Konzerte verkraften wird. Das Einvernehmen zwischen Orchester und künstlerischem Leiter war noch nie so groß; die Wertschätzung, Bewunderung, ja sogar Liebe ist gegenseitig. In dieser Situation heißt es Abschied nehmen. Trotzdem ist es nicht das Gefühl der Trauer, das diese unvergesslichen Tage beherrscht. Es fehlen ganz einfach die Worte, um zu beschreiben, was das Publikum im Goldenen Saal des Musikvereins erleben durfte. Kann man Konzerte in denen die Gefühle alles beherrscht haben, auch das Hören, in Worte fassen? Zwar haben wir noch irgendwie mitbekommen, dass wir wohl bereits, vom rein technischen Standpunkt her, bessere Konzerte gehört haben – aber ist das so sicher? Sicher ist, dass der Wanderer so weit zurückgehen kann wie er will: noch nie war er so bewegt oder überwältigt. Diese Konzerte werden ewig in seinem Herz eingraviert sein. Glücklich, wer dabei sein durfte!
Versuchen wir trotzdem eine mehr oder weniger klare Zusammenfassung: in den Rückert-Lieder haben die Interpreten zu Beginn Schwierigkeiten, die richtige Atmosphäre herzustellen. Spätestens bei ?Ich bin der Welt?? aber ist alles da. Das Publikum klatscht zwar danach nicht gleich, ist aber unruhig, was erstaunt: schließlich sind wir in Wien! Was ?Pelléas und Mélisande? betrifft, so versagen dem Wanderer erneut die sprachlichen Fähigkeiten. Diese Interpretation ist nicht von dieser Welt? Viele, Musiker wie Zuschauer, haben nachher Tränen in den Augen.
Entgegen den Erwartungen ist der allerletzte Abend dann ruhiger als der davor. Auch hier ist es dem Wanderer vollkommen unmöglich, irgendetwas zu beschreiben. Zwar hatte er das Gefühl, dass auch manche Musiker so bewegt waren, dass sie kleine Fehler begingen, aber - was soll?s? Die Perfektion wurde vom menschlichen Gefühl überrollt. Es war auch bewegend zu erleben, dass manche Musiker an diesem Abend hintere Positionen einnahmen, nur um dabei zu sein.
Somit findet eine unvergleichliche Verbindung ihr Ende. Der Wanderer ist von ganz gegensätzlichen Empfindungen bewegt. Auf der einen Seite ist er unendlich dankbar für alles was er in den letzten zwölf Jahren hören durfte. Auf der anderen ist er natürlich sehr traurig. So bleibt ihm nur, sich bei Claudio Abbado und den Berliner Philharmonikern für so viele, viele Stunden herrlichster Musik vom ganzen Herzen zu bedanken. - Da aber alles fließt und alles eine Fortsetzung hat, werden wir treu im Januar 2004 zur Stelle sein.