Wanderer's Erzählungen Nr 3



Silvester 2002: Mit Bernstein und Rattle "Wonderful evening"


Silvester in Berlin

Bereits 3 Jahre ist es her, dass sich einige Abbadiani an Silvester Richtung Berlin aufgemacht haben, um das Jahr 2000 gemeinsam mit Claudio Abbado zu begrüssen, der unter dem Motto ’Lauter Finali’ ein Konzert dirigierte, das aus Schlusssätzen berühmter Musikwerke und bekannter Berliner Operetten bestand.

Dieses Jahr haben sich nun wieder einige Abbadiani auf den Weg gemacht, um mitzuerleben, wie Sir Simon Rattle dieses traditionelle Konzert zum Jahresausklang gestalten würde.

Die Anwesenheit der Abbadiani sollte jedoch auch dazu dienen, dem Orchester die Referenz zu erweisen und somit unsere Treue und Freundschaft zum Ausdruck bringen.

Natürlich war unsere Stimmung anfangs etwas melancholisch, denn wir wussten ja, dass wir nach Berlin kommen und das Orchester nicht unter Claudio Abbados Leitung hören würden, aber wie heisst es doch so schön: ‚Prima la musica!’

Und siehe da : Das Silvesterkonzert unserer ‚Berliner’ hat uns keineswegs enttäuscht. Ganz im Gegenteil: wir sind immer noch glücklich und dankbar, dieses Ereignis miterlebt haben zu dürfen!

Sir Simon hatte ein Program mit Liedern und Auszügen aus Musicals von Kurt Weil, George Gershwin und vor allem Leonard Bernstein zusammengestellt. Der Hauptteil des Abends war dessen im Jahr 1953 komponierten Musical Wonderful Town gewidmet, das die Geschichte zweier junger Frauen erzählt, die sich aus der tiefen Provinz in Ohio aufmachen, um New York für sich zu erobern.

Die Berliner Philharmoniker standen, wie bereits erwähnt, unter der Leitung von Sir Simon Rattle und wurden ergänzt durch musicalerfahrene Interpreten wie beispielsweise Wayne Marshall (Piano), Ian Wood (Trompete), das Rashèr Saxophone Quartett sowie Andreas van Zoelen (Saxophon), dem von Sir Simon gegründeten ‚European Voices’ Chor und Sängern wie Audra Mc Donald, Kim Criswell, Brent Barrett, Timothy Robinson und Thomas Hampson, der im Musical sängerisch genau so zuhause ist wie in der Oper oder in der Liedinterpretation.

Die Lichtregie arbeitete mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln (Neonröhren, mehrfarbigen Spots und Rauchmaschinen) und verwandelte den Saal in eine Art Broadway-Vorzimmer. Die Choreographie wurde von Candace Allen geführt.

Dem aufmerksamen Besucher fielen einige Neuerungen seit dem letzten Besuch in der Ära Abbado sofort ins Auge: die neue Gestaltung der Programme, eine neue Informationszeitschrift (anstelle der ehemaligen ‚Philharmonischen Blätter’) im Stile von ‚News Magazine’, die Interviews mit Künstlern bringt und Neuigkeiten aus dem Orchester berichtet. Eine erneuerte und vergrösserte Buchhandlung in einer Ecke des Foyers, Text- und Bildprojektionen an den Wänden. Kurz gesagt - mit dem neuen Chef hat auch in dieser Richtung eine neues Zeitalter begonnen.

Die Intention des gewählten Programms war mehr als offensichtlich: Es ging in erster Linie darum, eine gute Atmosphäre für die bevorstehende Silvesterfeier zu schaffen. Die zweite Absicht war es, den Zuhörern die unterschiedlichen Wurzeln des Genre ‚Musical’ näherzubringen: einerseits Gershwin als die amerikanische Quelle, andererseits, als die deutsche (im vorliegenden Fall sogar Berliner) Komponente, Kurt Weill. Als aus diesen beiden Kulturen resultierende dritte Grösse wurde Leonard Bernstein präsentiert, der mit seiner ‚West Side Story’ nicht nur d a s Musical par excellence geschaffen hat, sondern der mit seiner Interpretation des Gesamtwerkes von Gustav Mahler bewirkt hat, dass letzteres heutzutage wie selbstverständlich zum philharmonischen Repertoire gehört.

Bernstein war es auch, der sich zeitlebens für den Frieden engagiert, sich immer wieder in der Arbeit mit jungen Musikern engagiert (in den USA in Tanglewood, in Deutschland beim Schleswig Holstein Festival) und, last but not least, Beethovens ‚Neunte’ an den Überresten der Berliner Mauer, nicht einmal 400m von der Philharmonie entfernt, dirigiert hat.

Darüber hinaus spielt ein Titel wie Wonderful Town natürlich auch auf die aktuelle Situation in Berlin an: einer Stadt, die inmitten von Schwierigkeiten lebt und sich dennoch in hohem Tempo in jene offene und tolerante Stadt zurück verwandelt, die sie einst gewesen ist und auf diesem Weg ihren einzigartigen Charakter als grosses Kunst- und Kulturzentrum wiederfindet.

Und die Berliner Philharmoniker tragen hierzu das Ihre bei: ausgerechnet anlässlich des doch immer im öffentlichen Rampenlicht stehenden ‚Silvesterkonzertes’ nehmen sie das Genre ‚Musical’ in ihr Repertoire auf und verweisen somit auf eine der wichtigen Wurzeln des heutigen Berlin hin (so wie dies die Wiener Philharmoniker anlässlich ihres traditionellen Neujahrskonzertes mit dem Walzer tun). Sie unterstreichen somit die engen Bande zwischen der sog. ‚Leichten Muse’ und dem grossen klassischen Repertoire: Weill, Gershwin und Bernstein sind allesamt sozusagen musikalische Grenzgänger, die sich immer gegenüber der Welt, den unterschiedlichen Interessen des Publikums und der Zukunft offen zeigten. Es war wirklich eine ausgezeichnete Idee, all dies dem Berliner Publikum zu präsentieren. Und in zwei Jahren werden dann die Besucher der ‚Osterfestspiele Salzburg’ in den Genuss von Gershwin kommen!


Eröffnet wurde das Konzert mit der Ouvertüre zu Leonard Bernsteins ‘Candide’. Das Werk schildert Candides Irrwege durch eine chaotische Welt, an deren Ende er sein Paradies findet, die Arbeit und Produktion seines Reichtums. Die Musik ist von ausserordentlicher Dynamik, beinahe akrobatischer Präzision und Rhythmik. Das ist Bernstein in seiner ganzen Breite: das Gespür für Melodie und Rhythmus, der Einbezug klassischer Elemente, die Fülle und Geschlossenheit des Klangs, der sehr differenzierte Einsatz von Blech- und Holzbläsern,.... Und Sir Simon Rattle bewies auf den ersten Anhieb, dass er in diesem Repertoire zu Hause ist. Mit seiner ganzen Gestik, seiner Art sich zu bewegen, jedem Musiker zu folgen, seinem Lächeln, das so sehr an die Präsenz von Leonard Bernstein erinnert, reisst er Musiker und Publikum gleichermassen mit sich.

Anschliessend trugen einige der Solisten Lieder von Kurt Weill vor, allerdings nicht aus seiner Berliner Zeit, sondern aus seiner Zeit im amerikanischen Exil : Thomas Hampson begann mit ‘Dirge for Two Veterans’ aus Walt Whitmans Vier Liedern. Er besitzt eine breite, wunderbar warm fliessende Stimme. Am 30.Dezember hatte er in der Höhe etwas Schwierigkeiten, dafür war letztere am 31.12. umso strahlender. Anschliessend trug Timothy Robins zwei Auszüge aus Street Scenes mit grosser Eleganz vor, gefolgt von einem absolut verrückten Sextett, dem Ice Cream Sextett, das allen Solisten des Abends die Gelegenheit bot, sich gemeinsam zu präsentieren und beim Publikum gute Laune aufkommen zu lassen.

Der nächste Teil war George Gershwin gewidmet. Audra Mc Donald verfügt über tolles Aussehen, eine warme Stimme und eine perfekte Technik. Ihr Vortrag von ‘My Man’s gone Now’ aus Porgy and Bess sowie die Interpretation des Orchesters haben uns davon überzeugt, dass man sich das ganze Werk in genau dieser Kombination unbedingt anlässlich der Salzburger Osterfestspiele 2005 anhören muss.

Nach ‚Ask me again’ kam das berühmte ‚Fascinatin’ Rhythm’, mit dem das Publikum auf das Beste auf das nachfolgende Wonderful Town eingestimmt wurde.

Wonderful Town - das heisst 70 Minuten Chorszenen, Lieder, Tanzeinlagen. Und das bei einem absolut teuflischen Tempo, das Sir Simon den ‚Berlinern’ und die grossartige Kim Criswell dem Chor und ihren Solistenkollegen vorgaben.

Sir Simon Rattle ist mit dem Werk bestens vertraut, da er das Musical bereits für EMI mit beinahe der gleichen Besetzung eingespielt hat.

Die Philharmonie war wie für ein echtes Broadway-Spektakel in Szene gesetzt und die Aufführung in halbszenischer Version gezeigt worden, wie es seit Claudio Abbados Zeiten in der Philharmonie üblich ist. Es entwickelte sich ein rauschendes Fest mit Augenblicken, in denen schallend gelacht werden durfte (beim unvergleichlichen Song ‚One Hundred Easy Ways to Lose a Man’ – ‚Einhundert einfache Wege einen Mann loszuwerden’ – oder der ‚Conga’-Tanzstunde, beide von der hinreissenden Kim Criswell angeführt), aber auch mit eher lyrischen Passagen (das berühmte ‚Ohio’ oder ‚My Darlin’Eileen’, ein Lied irischer Einwanderer) sowie romantischen Momenten (‚A little bit in love’ bzw. ‚It’s love’, unvergleichlich vorgetragen von Thomas Hampson).

Und die Spannung liess trotz der traditionellen Abfolge von Arien, Tänzen und Chorszenen (alles auf engstem Raum ausgeführt) nie nach. Das Ganze auch dank eines aussergewöhnlichen Chores, der mit grosser Anpassungsfähigkeit und ausgezeichnetem Rhythmusgefühl sang und tanzte. Im ‚Conga’ beispielsweise führte die phantastische Kim Criswell den ganzen Chor in der Art eines Revuegirls an. Und selbstverständlich legten die Berliner Philharmoniker auch auf diesem, ihnen eigentlich ungewohntem Terrain ihre volle Professionalität und bereits legendäre Präzision an den Tag.

Darüber hinaus aber demonstrierten sie auch noch eine unglaubliche, fast schon jugendliche Freude am Spiel: besonders hervorzuheben ist das leidenschaftliche Engagement der Blechbläser, aber auch das grossartige Klarinettensolo, das im Zwischenspiel des ‚Ballet at the Village Vortex’ zum Besten gegeben wurde. Sir Simon dirigierte mit dem ihm eigenen Lächeln auf den Lippen und seinem gewohnten Überschwang sowie seiner gnadenlosen Genauigkeit, der nichts und niemand entkommt.

Das Finale entwickelte sich dann in vollkommen unerwarteter Art und Weise: nach einer kurzen Ansprache zum Jahreswechsel forderte Sir Simon den ganzen Saal (immerhin 2000 Besucher) zu den südamerikanischen Rhythmen des ‚Conga’ zum Tanz auf. Auf sein Zeichen hin hatten Publikum und Orchester aus vollem Halse ‚Conga’ zu schreien. Die Zugabe begann, die Solisten und der Chor erschienen auf einmal mitten im Saal, mischten sich unter das Publikum und luden dieses zu einer Polonaise ein, deren Schlange immer mehr anwuchs und sich auf den Weg durch den ganzen Saal machte. Sir Simon dirigierte tanzender Weise behängt mit Luftschlangen und umrankt von Blumen, und die Orchestermusiker musizierten zeitweise im Stehen und tanzten dazu.

Das Konzert schloss somit in einem Freudentaumel aller Beteiligten.

Ein Abend wie dieser, den niemand in dieser Form erwartet hatte, wäre ohne jenen Veränderungsprozess, den das Orchester in den vergangenen Jahren durchgemacht hat, undenkbar. Ein Orchester, das sich zum Grossteil verjüngt hat und sich, in jeder Hinsicht, in vollem Umfang zur Verfügung stellt. Diese Entwicklung hat Claudio Abbado vor 12 Jahren in Berlin eingeleitet und das Resultat ist heute ihm zu verdanken. Nie zuvor wäre ein derartiger Abend möglich gewesen: Claudio Abbado hat die Türen geöffnet und hat Sir Simon Rattle ein Orchester übergeben, das für neue Erfahrungen offen ist. Vor allem im Bereich der Jugendmusikerziehung hat sich seit September einiges getan. Es gibt z.B. in einem Berliner Aussenbezirk eine Aufführung von ‚Le Sacre du Printemps’, zu der 200 Schulkinder tanzten. In Aktivitäten wie diesen findet die von Claudio Abbado eingeleitete Entwicklung ihre Fortsetzung.

Im Anschluss an die Vorstellung haben die Abbadiani dem Chefdirigenten und den Musikern ihre Referenz erwiesen. Die Musiker freuten sich, uns anlässlich dieser Gelegenheit in Berlin wiederzusehen. Sir Simon, der wie immer sehr herzlich war, übergaben wir ein Photo, das ihn mit einer Gruppe von Abbadiani in Wien zeigt, und er erinnerte sich sofort an den damaligen Anlass. Mehrmals liess er uns wissen, dass es ihn sehr freuen würde, die Abbadiani weiterhin regelmässig in Berlin zu sehen. Alle Musiker, die wir getroffen haben, dankten uns für unser Kommen. Darüber hinaus erinnerten sie sich mit Freude an jene wunderbaren Aufführungen, die sie im vergangenen Jahr mit Claudio Abbado erleben durften.

Claudio Abbado senden wir auf diesem Weg unsere besten Wünsche für das kommende Jahr.

Mit grosser Ungeduld und jener Freude, die wir in Berlin zum Jahreswechsel erleben durften, erwarten wir seine kommenden Konzerte.