|
|
herum...
Das Lucerne Festival Orchestra in Tokio
Totenstille herrschte in dem grossen Saal, nachdem Gustav Mahlers sechste Sinfonie - ein Werk von schicksalsmächtiger Verwegenheit - in dem «piano» zu spielenden Pizzicato der Streicher gespenstisch trocken erloschen war. Dieses Schweigen galt zuerst der Komposition, die zwei Takte zuvor ihren letzten Aufschrei aus Verzweiflung und Ingrimm vorgeführt hatte und sich nun mit aphoristischer Kürze verabschiedete. Es galt dann freilich nicht weniger der Leistung eines aussergewöhnlichen Orchesters und dessen Dirigenten - Claudio Abbado, der Maestro, hatte während beinah neunzig Minuten seine Musiker mit ungeheurer Intensität durch alle Klippen der schwierigen, im Ausdruck so vielgesichtigen Partitur geleitet. Entsprechend deutlich erscholl danach der Applaus; ein Beifall, der sich bald zum Jubel steigerte und rechtens eine eminente Leistung sämtlicher Beteiligten beglaubigte.
Die Beteiligten: das Lucerne Festival Orchestra, vor drei Jahren von Abbado und dem Intendanten der Festspiele, Michael Haefliger, ins Leben gerufen. Zusammengesetzt aus Interpreten, die alle als Meister ihres Faches gelten dürfen, eingeschworen auf ihren Chef, der seine schwere Erkrankung inzwischen wie ungeschehen gemacht hat - Abbado wirkt heute wieder jugendlich vital, und seine Zeichensprache, die den Taktstock, das Auge, die Mimik und die feinsten Bewegungen des Körpers souverän in sich vereint, begegnet insbesondere dem prozessualen Geschehen der Musik, wie es für Mahlers Sinfonien praktisch Takt für Takt neu auszumessen ist. Nichts war hier verloren oder leichthin überspielt, jeder Einsatz entwickelte sich analytisch und mit der nötigen Emotion in die Richtung des Ganzen.
Tatort Suntory Hall
Einen begeisternden Marathon durchlief das Lucerne Festival Orchestra in der japanischen Hauptstadt. Vom 11. bis zum 19. Oktober - und unter klimatisch wohltuenden Verhältnissen spätsommerlicher Milde - fanden Konzerte verschiedenster Couleur statt, die dem Ruf des Ensembles wie der für die Tournee aufgebotenen Solisten vollkommen gerecht wurden. Das Publikum liess sich nicht zweimal bitten; alle Aufführungen waren ausverkauft, manche - wie die Abende mit Mahlers Sechster und der vierten Sinfonie von Bruckner - seit Monaten. Man konnte hören und sehen, dass die Einheimischen auf ihre besondere Weise mitgingen: Sie pflegten die bekannte Disziplin der Aufmerksamkeit so, als ob sie den Werken in der Stunde ihrer Geburt lauschen wollten, und sie revanchierten sich - auch nicht überraschend - mit freigebiger Herzlichkeit. Felix Japan, wäre wider europäisch abgebrühte Konvention zu formulieren. Dieses Echo wog umso mehr, als das Orchester zum ersten Mal in Tokios elegant weiträumiger Suntory Hall konzertierte und allerdings mit der fabelhaften Akustik des Saals aus Marmor und viel Eichenholz glänzend zurechtkam.
Was die Programme insgesamt betraf, so gab es keinerlei Kompromisse. Weder die Sinfonien von Mahler und Bruckner noch Strawinskys «Geschichte vom Soldaten», weder Bruckners Streichquintett in F-Dur noch das Klavierquintett von Brahms oder dessen zweites Klavierkonzert sind leichte Kost. Sie zwingen im Gegenteil die Interpreten dazu, differenzierend zur Sache zu gehen, und sie setzen bei den Zuhörern ein gleichsam idiomatisches Verständnis voraus. Den Zyklus eröffnete Maurizio Pollini mit einem Rezital. Der Italiener einer intellektuell gebändigten Gestaltungskraft tat das, wozu ihn die Programmatik trieb: Er spannte den Bogen von Arnold Schönberg und Beethovens «Appassionata» zurück zu Franz Liszt, indem er mit Schönbergs drei Klavierstücken op. 11 und den sechs kleinen Klavierstücken op. 19 begann und über späte, unheimlich esoterische Miniaturen von Liszt den Weg zu dessen Sonate in h-Moll legte.
Deshalb war ohne forcierte Didaktik plötzlich zu vernehmen, wie sehr hier zwei Welten scheinbarer Ferne nahe zusammenrückten. In Kompositionen wie «Nuages gris», «Unstern», «Die Trauergondel Nr. 1» oder «Richard Wagner - Venezia», wo der alte Liszt die Intervalle obsessiv wiederholt und die Dissonanzen keiner Auflösung mehr entgegenlenkt, klangen bereits die Minimalismen von Schönbergs revolutionärem Frühwerk auf, derweil die gefürchtete Sonate - von Pollini mit ausholender Attacke stürmisch, ja wild beim Wort genommen - in manchen Klangfeldern bereits Debussy vorwegzunehmen schien. Folgerichtig spielte der Künstler, der sich im Lauf des Abends immer freier bewegte, als erste Zugabe Debussys «Cathédrale engloutie», um sich danach in die Strudel von Liszts «Etude transcendante» in f-Moll zu stürzen.
Hingabe vor Eigensinn
Drei Tage danach trat Pollini auch als Kammermusiker in Erscheinung. Zusammen mit Kolja Blacher, dem brillanten Konzertmeister des Lucerne Festival Orchestra, Anton Barachovsky an der zweiten Geige, dem Solo-Bratschisten Wolfram Christ und dem Cellisten Mario Brunello gab er eine zugleich beherzte und aus den melodischen Nuancen erhörte Wiedergabe von Brahms' f-Moll-Quintett. Hintergrund statt vordergründige Virtuosität - so lautete ganz ungezwungen die Devise für die Arbeit an und mit der Musik während dieser acht Tage. Anders gesagt, was Claudio Abbado im Kopf wie im Herzen trug, als er im Jahr 2003 die vielen Musiker einer herausragend solistischen Kompetenz zum grossen Ensemble zusammenbat, sollte auf ein Interpretieren geeicht sein, dessen Ganzes aus den kammermusikalischen Qualitäten der einzelnen Stimmen heranwachsen musste.
Solches bewährte sich ohnehin in der Kammermusik selbst - in Mendelssohns Oktett für Streicher oder in Mozarts Klarinettenquintett, in welchem Sabine Meyer ihr Instrument zu Höhenflügen einer intimen Rhetorik animierte und Valentin Erben, der bedeutende Cellist des Alban-Berg-Quartetts, seinen Part so dienend gestaltete, als hätte er sich für seine Anwesenheit entschuldigen wollen. Es bewährte sich aber auch und im weiteren Massstab für die sinfonischen Brocken. Die ersten Proben von Mahlers Sechster dienten - wie Kolja Blacher zu berichten wusste - lediglich der Konzentration auf die einzelnen Instrumente im Verstand des polyphonen Geschehens. Nicht der Gesamtklang stand zur Wahl, sondern das Gerüst des kapitalen Werks aus dem Verlauf von Haupt- und Nebenstimmen. Die Generalprobe bewies darauf, wie fruchtbar solche Aufhellung der Strukturen zum Verständnis des Texts gelangt. Aus dem Nichts eines beinah unhörbaren Pianissimo formte sich im langsamen Satz das von den Streichern mehr gehauchte als erzählte Thema: Die ersten Geigen trugen die Melodie, die zweiten Geigen und die Bratschen hielten mit dem Dämpfer die liegenden Noten, die Celli wiegten sich in der auf- und absteigenden Begleitung, und die Kontrabässe tupften ihre Pizzicato-Achtel - Kammermusik pur.
Besonnenheit
Von anderen Mahler-Dirigenten besonderen Rangs unterscheidet sich Abbado durch ein Ohr, das sowohl formt und lenkt wie im Gleichen aus freundschaftlicher Distanz begleitend mitdenkt. Parodistisches - woran es bei Mahler kaum je mangelt - klingt deshalb geläutert, Bombastisches verwandelt sich in Kraft von innen, Rhythmisches - wie allerlei Ländler-Travestie - kommt ohne Sarkasmen aus. Wo Solti die Musik zusammendrängte, befreit sie sich hier auf differente Ebenen, wo Bernstein befeuerte, tanzte und zur Verzückung rannte, agiert der Chef nun mit besonnener Emphase. Und die Musiker - die kurz zuvor die sechste Etage ihres Hotels in ein Konservatorium scheinbar niemals endender Tonleitern und Doppelgriffe verwandelt hatten - setzen seine Intentionen so um, als gälte es ihr Leben.
Auch dies wird in Japan vielleicht noch mehr geschätzt als anderswo. Die Echtzeit der Musik besitzt im Land der digitalen Reproduktionen fortgeschrittenster Listen und Tricks einen enormen Stellenwert. Die Künstler, die von weit her - in hiesigem Verständnis: aus Barbarien? - anreisen, betreten die Bühne, als wären sie Samurais: der grenzenlosen Verehrung bedürftig und gewiss. Während wir Durchschnittsbürger gern und nicht nur zu Unrecht eine irreale Atmosphäre von «Lost in Translation» nachempfinden mögen, verdienen sich Interpreten wie Abbado, Pollini und verwandte Kaliber unentwegt höchste Aufmerksamkeit. Für Maurizio Pollinis Klavierabend war hinter dem Steinway von Fabbrini aus Florenz ein Halbrund mit zwei Rängen ohne Lehnen aufgebaut worden, auf dem sich vierzig sehr junge Japanerinnen aufhalten durften. Sie sassen da, rührten sich nicht, klatschten wie Synchronkünstlerinnen - und waren für jede Note, für jede Phrase, für jede Fermate hellwach. Bravissimo.
Martin Meyer
Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG
Le Monde (Mahler VI) | |
|
|
NZZ 1 (Mahler) | |
Le Temps (Bruckner) |
Aktualisierung
Der Wanderer |
Sich erinnern |
Schreiben Sie uns |