Die Chronik des Wanderers (auf italienisch)

Salzburg 2002

Premiere Kritiken (12)

Neue Zürcher Zeitung, 25.März 2002

Wagner - zwischen gestern und heute
«Parsifal» an den Osterfestspielen Salzburg

Ganz ruhig, extrem leise, stark aufgehellt - so breitet sich das Vorspiel aus. Schon nach wenigen Takten ist offenkundig: Hier herrschen weder der gewohnte Wagner-Ton noch der verbreitete «Parsifal»-Dunst. Klar sind die Linien herauszuhören, und deutlich ist nachzuvollziehen, wie sich der Klang aus dem Zusammenwirken eben dieser Linien bildet - das Orchester sitzt ja auch nicht im nahezu geschlossenen Graben von Bayreuth, der die Konturen in einer besonderen Weise verschwimmen lässt, sondern im Grossen Festspielhaus Salzburg, wo, trotz dem ausgeprägten Hall, eine klare, offene Akustik herrscht. Wunderbar, dieser «Parsifal». Wunderbar nämlich, was die Berliner Philharmoniker, die Richard Wagners Bühnenweihfestspiel vergangenen Herbst für eine konzertante Aufführung in Berlin erarbeitet und jetzt zu den Salzburger Osterfestspielen gebracht haben, an orchestraler Souplesse, an klanglichem Raffinement, an Piano-Kultur einbringen. Und ein würdiger Abschied von Claudio Abbado, der diesen Sommer als Chefdirigent in Berlin zurücktritt und nun zum neunten und letzten Mal die durch Herbert von Karajan begründeten Osterfestspiele prägte. Er wurde gross gefeiert.

Verständlichkeit statt Rausch, das steht hier im Vordergrund - und dies durchaus in wörtlichem Sinn. Wenn Gurnemanz den Abend mit der bei Wagner üblichen Erläuterung des Woher und des Warum eröffnet, dann ist Hans Tschammer, der die Partie mit eindrücklicher Sonorität bewältigt, in jedem Wort verständlich. Und gleich ist in diesem Moment eine weitere Besonderheit zu registrieren, sind doch die vier Knappen, die den Ritter in Amfortas' Diensten umgeben, mit Solisten aus dem Tölzer Knabenchor besetzt. Auch später, in der Gralsszene, die den ersten Aufzug beschliesst, sind für den Nachwuchs der Ritterschaft (die Herren des Prager Philharmonischen Chors) keine Frauen in Männerkleidern am Werk, sondern der von Gerhard Schmidt-Gaden geleitete Knabenchor, was zu einem ungewohnten, aber überzeugenden Klangbild führt. Geradezu spektakulär sind an dieser Stelle aber die vier mächtigen Glocken, die seitlich über dem Orchestergraben aufgestellt sind und in kleinem Licht von vier Spielern bedient werden. Tibetischen Tempelglocken nachempfunden und - nur so sind sie überhaupt zu transportieren - aus Aluminium gefertigt, erzeugen sie sehr tiefe und sehr laute Töne, die auch als Vibration spürbar werden; für einmal also nicht die üblichen und meist zu hohen Kirchenglocken, nicht die zu wenig kräftigen Plattenglocken und auch nicht der in der Regel dumpfe elektronische Klang.

Mächtig zieht das Geschehen im zweiten Aufzug an. Abbado lässt hier seinem dramatischen Naturell vollen Lauf, und die Berliner Philharmoniker folgen ihrem Dirigenten mit jenem satten, glänzenden Forte, für das sie bekannt sind. Klingsor wird von Eike Wilm Schulte gegeben, der über einen hell timbrierten, hoch wirkenden Bariton verfügt und damit der Figur ein Profil verleiht, das an jenes des ohnmächtigen und gerade darum gefährlichen Herodes aus Richard Strauss' «Salome» denken lässt. Und dann schlägt hier die Stunde von Thomas Moser, der mit seinem kraftvollen, klar zeichnenden Tenor einen weniger naiven als heldisch entschlossenen Parsifal gibt, und von Violeta Urmana (Kundry), deren weicher, fülliger Sopran üppige Sinnlichkeit verströmt - eine Sinnlichkeit, wie sie auch die durch die Damen des Arnold-Schönberg-Chors Wien unterstützten Blumenmädchen verbreiten. Auch sängerisch ist dieser «Parsifal» - bis hin zu dem exzellenten Amfortas von Albert Dohmen - ein reines Vergnügen.

Szenisch freilich ist die Produktion vollkommen misslungen. Die Bilder, die der italienische Maler Gianni Dessi entworfen hat, sind zwar von farblich betörender Wirkung. Und in der Gralsszene erreicht der Klang, da die Chöre auf einem mächtigen Gestell postiert sind, tatsächlich räumliche Wirkung. Doch die Kostüme von Anna Maria Heinrich scheinen geradewegs dem Opernlexikon entsprungen - und vor allem fragt man sich, was denn in Peter Stein gefahren ist. Er begnügt sich damit, die in der Partitur festgehaltenen Anweisungen wortwörtlich auf die Bühne zu bringen. Pünktlich kommt denn im ersten Aufzug der ausgestopfte Schwan geflogen, blutrot leuchtet das Caquelon, in dem der Gral zu vermuten ist, während der von Klingsor geschleuderte Speer wohl an seinem Draht quer über die Bühne saust, über dem Kopf von Parsifal aber nicht Halt macht, sondern kräftig zurückschnellt. In Klingsors Zaubergarten herrscht fröhliches Hüpfen, Kundry und Parsifal meistern ihre Szene so, wie sie Opernsänger eben zu meistern vermögen. Soll das eine Provokation sein? Oder ist es die pure Ignoranz der komplexen Wirkungsgeschichte gegenüber? Beim Erscheinen des Regisseurs am Ende ein nahezu geschlossenes Buh. Selbst dem exklusiven Publikum der Osterfestspiele Salzburg war das zu viel. Oder zu wenig.

Peter Hagmann