Berliner Zeitung
Die
Chronik des Wanderers (auf italienisch)

Salzburg 2002

Premiere Kritiken (13)

Berliner Zeitung, 25.März 2002

Heiliges Blut in Glut

Erlösung ohne Subjekt: Claudio Abbado und Peter Stein geben Wagners "Parsifal" in Salzburg

Klaus Georg Koch

Gleich zu Beginn ein Wort zum thema "Schein": Der dritte Akt von Peter Steins und Claudio Abbados Salzburger "Parsifal" beginnt wie auf dem Mond. In der Mitte ein Krater - matte Erinnerung an den Gralspokal vom ersten Akt - und auch sonst alles alt und öd. Parsifal kommt und ruft sich zum Gralskönig aus und spendet Kundry die Taufe. Da hebt sich der runde Kraterrand wie eine Gloriole über die Szene und schwebt. Karfreitagszauber!, so heißt es im Text.

Es schneite aber an diesem Wochenende in Salzburg. In den Pausen der Premiere am Samstag trat man an die Fenster des Festspielhauses, und die Schneeflocken wirbelten durch die Luft, und alle Kirchenkuppeln leuchteten weiß in der Dämmerung, und von den Glockentürmen tönte das Angelusläuten herüber. Das war ein Gefühl wie Weihnachten.

Im Festspielhausfoyer sagt uns der Verstand: Weihnachten ist jetzt nicht. Aber was sagt der Verstand im Saal, wo mehr als vier Stunden lang Wagners "Bühnenweihfestspiel" unter künstlichem Licht gegeben wird? Man ist ja extra dazu hineingegangen. Peter Stein, der Regisseur, und auch Claudio Abbado machen ein Bühnenweihfestspiel, wie es im Buch steht: Wenn Wagner schreibt, Klingsor "versinkt schnell mit dem ganzen Thurme", dann fährt der Turm in den Bühnenuntergrund. Und wenn der von Klingsor geschleuderte Speer über Parsifals Haupt schweben bleiben soll, dann schwebt er auch bei Stein und die Stoppvorrichtung klappert. Über diese Äußerlichkeit des Ernstnehmens ist es leicht, sich lustig zu machen, und dass Stein inszeniert, mit altbekannten Mitteln, als gäbe es draußen keine Welt, ist vielleicht wirklich ein Problem. Was meinte Wagner, als er sagte, mit diesem Werk wolle er "den Kern der Religion" retten? Kann man heute zum Katholizismus konvertieren wie es in der Romantik große Köpfe getan haben? Peter Stein wirkt, als habe er?s getan.

Als vor zwei Jahren Stein und Abbado "Simon Boccanegra" von Verdi für die Osterfestspiele produzierten, da wurde in dieser Zeitung auf das unbürgerlich Kalte, auf die auch soziale Statik der Inszenierung hingewiesen. Wie damals in Verdis Oper, so stehen jetzt auch in Wagners Bühnenweihfestspiel die Figuren auf der Bühne herum. Allerdings steht die Statik der Sänger nicht gerade in Widerspruch zu der unbewegten Architektonik von Wagners erfundener Heilsgeschichte. Es ist ja eigentlich keiner frei im "Parsifal". Nun muss man sehen, wie bei Stein auf der Bühne gestanden wird: Kundry, die Verkörperung des Frauenproblems, steht gar nicht. Sie kriecht über den Boden, richtet sich nur zu Beginn Parsifal gegenüber auf, aber der stößt sie gleich wieder zurück. So ist die entscheidende Wende des zweiten Akts, in der Parsifal die Paarbeziehung zu Gunsten des Heils opfert, schon präfiguriert. In der Gralsszene des ersten Akts fallen zum Mysterium des göttlichen Blutes nun alle auf die Knie. Allein Parsifal bleibt breitbeinig stehen - er hat es nicht verstanden. Und dann muss man bisweilen auch sehen, wo jemand steht. Klingsors Lustgarten im zweiten Akt ist ein niedliches Heckenlabyrinth, eine Kette von Golfen und Busen, wie es in Manzonis "Verlobten" heißt, hier klärt Parsifal sein Verhältnis zu den Frauen. Zum Entscheidungskampf mit Klingsor aber tritt er aus dem Garten heraus, so dass dieser zwischen den Gegnern liegt, nur Kundry sitzt noch drin. Auch hier ist der Ausgang der Sache gewissermaßen geometrisch vorherbestimmt.

Zum Heilsplan gehört die Geometrie, das liegt im Wort "Plan". Immer wieder, spektakulär nach der Speerwurfszene, stellt Stein das Kreuz heraus; noch der Schlussvorhang klappt triumphierend in Kreuzform auf wie ein Himmel-und-Hölle Spiel. Um dennoch, trotz der vielen Figuren, etwas wie "Welt" herzustellen, hat Stein die Farben bemüht. Gelb, ein intensives, warmes Gelb, das in den Momenten des Mysteriums, wenn das heilige Blut zu glühen beginnt, in rot übergeht, steht für die Heilswelt des Grals. Stein mischt das Gelb aber gelegentlich auch in die Szenen der Sündenwelt. Und dann schlägt er den Bogen auch wieder zurück. Klingsors Reich sinnenhafter Verführung lässt er nicht untergehen, sondern er folgt einer anderen Vorstellung Wagners, lässt dürres Laub auf den Garten herunterstürzen - zur Sünde gehört der Tod. Beim Wiedereintritt in die Gralswelt erscheint auch diese ins Extrem gealtert.

Das unwiderstehlich Fließende von Abbados Dirigat ist bereits im vergangenen Herbst anlässlich der konzertanten Aufführung in Berlin bemerkt worden, man könnte es im Widersspruch zur Statik Steins vermuten. Dieses Dirigat ist eines des allerschönsten, die Zeitpotenziale der Harmonik erspürenden Gewährenlassens. Es identifiziert nichts an der Musik, es lässt sie nur sein. Das hat, wie es auch die Widerstände des Urteilens überspült, etwas Antisubjektives, das recht gut zu Steins eskapistischer Heilsästhetik passt. Das Spiel des Orchesters reicht bisweilen ins Überirdische, schön bis zum Schmerz. Abbado favorisiert eine sanfte, indirekte Tongebung, das Physikalische der Tonerzeugung wird verborgen. Alle Orchestergruppen leisten hier Außerordentliches, am stärksten wirken aber die hohen Streicher, auch deswegen, weil sie auf der rechten Seite des Orchesters sitzen und den Klang in die dem Publikum entgegengesetzte Richtung spielen, von wo er dann samtig gebrochen in den Raum zurückkommt.

Mit dem Physikalischen der Tonerzeugung stellt Abbado auch eben das Subjektive, kraftmäßig Hervorgebrachte zurück - der individuelle Charakter der Instrumente wirkt wie aufgehoben, in einem rhetorischen Sinn wird nicht artikuliert. Bereits die Einleitung hat dann etwas so Vollkommenes, dass die Äußerungen der ersten Singstimmen, kehlig hervorgestoßen von sackartigen Lebewesen auf zwei Beinen, wie eine Störung wirken. So erfährt man etwas von dem Widerspruch, dass dieses Bühnenweihfestspiel, Wagners letztes Werk fürs Theater, eine Oper nicht mehr sein will. "Oper" wird "Parsifal" erst, als der Auftritt Kundrys durch einen theaterhaft aufgedonnerten Dominantsept-akkord angekündigt wird.

Am Stärksten wirkt die Opern-Aufführung, wo Abbado die generell vortrefflichen Sänger in den Orchestergesang hineinflicht: In der Erzählung des Gurnemanz im ersten Akt, in jener Kundrys im zweiten. Auch hier müssen die Subjekte also verschwinden - wie generell der Gegensatz von Männern und Frauen, dessen klanglicher Ausdruck den Kern der alten Gattung Oper ausmacht. Der Mensch, der singt, geht jetzt im Orchester auf, der Klang des Orchesters geht im Tönen der Gralsglocken auf. Verdächtig viel geht da auf. Kurz vor dem abschließenden Wunder und zu dessen unhintergehbarer Beglaubigung versinkt die Szene in heiligem Lärm. Darauf verdämmert die Musik in strahlendem Gelb.