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Japanisch? Klassisch!
Zu Gast beim besten Publikum der Welt: Claudio Abbado dirigiert das Lucerne Festival Orchestra in T okio
Musik ist eine global zirkulierende Ware, Japan ein Wachstumsmarkt dafür - und Tokio das fernöstliche Mekka der Musik-Klassik und ihrer Künstler, fern der Ermüdungsszenarien des Westens. Die Konzertreise mit dem Lucerne Festival Orchestra unter Claudio Abbado (mit Maurizio Pollini als Solisten) macht deutlich, wieviel Enthusiasmus klassische Musik noch erregen kann, und wie tief verständig das japanische Publikum selbst diffizilen Werken von Brahms, Bruckner oder Mahler gegenüber tritt. Angereiste Orchestermusiker spüren zugleich die rückhaltlose Bewunderung, die ihnen widerfährt, wenn sie in Japan auftreten - wie sie ihnen zu Hause kaum entgegengebracht wird. Das Resultat sind Aufführungen des Luzerner Orchesters von seltener Energie und geistiger Durchdringung, von makelloser Individualität und Schönheit des Klangs.
Claudio Abbado, Jahrgang 1933, erinnert sich in einer Probenpause in Tokio, wo er 1973 zum ersten Mal dirigierte und später mit den Berliner und Wiener Philharmonikern oder der Mailänder Scala gastierte, mit Glücksgefühlen an den "Wozzeck" dort mit der Staatsoper Wien. Er äußert sich überschwänglich über den atemberaubenden Lerneifer dieses Publikums. Maurizio Pollini sah sich nach Schönberg, Beethoven und Liszt jetzt in Tokio zu fünf Zugaben herausgefordert. Er kam aus Peking, wo er zum ersten Mal aufgetreten war, wo das Publikum, berichtet er, deutlich "unruhiger", drängender, vitaler reagiere als in Tokio.
Woher die Affinität der Kulturen? Die klassische Musik Europas wird von den Japanern als eine Art Universalsprache wahrgenommen, sie sind fasziniert von deren rigider Struktur- und Formorganisation, Ordnung, Farbigkeit. Sie erleben sie, neben der längst als museal gepflegten alten eigenen Musiktradition, als höchstes Kulturgut - und wussten hier übrigens, was sich hinter dem noch jungen Namen Lucerne Festival Orchestra verbirgt: Die Qualität eines Ensembles, dessen Klanggeheimnis der Mischung aus sehr jungen Musikern und sehr erfahrenen Weltklassesolisten zu danken ist.
Zur Faszination, die ein Orchester und sein Dirigent auf das japanische Publikum ausüben, gehören auch Phänomene wie Führung, Präzision oder Effizienz, all das, was dem Orchestermusizieren zugrunde liegt. Das spannungsvolle Gleichgewicht, das eine musizierende Gemeinschaft und ein starker Dirigent erzielen, muss die Menschen im Land der unbegrenzt organisierbaren Präzision überwältigen, wo die Feinabstimmung zwischen Individuum und Kollektiv nationales Gebot ist. Mahlers Sechste in einer Aufführung von enormer Detailgenauigkeit wie Sprengkraft, Bruckners Vierte in der symphonischen Balance von Klangdetail und Klangtotale, Brahms" zweites Klavierkonzert als mal ungestümes, mal feinmotivisches Dialogisieren von Solist und Tutti - die japanischen Klassikfans, die bestens informiert sind auch über die neuesten CD-Einspielungen aus Europa und für solche Konzerte 40 000 Yen (rund 300 Euro) opfern, hören diese Musik als ihre eigene.
Das LFO kann als Glücks- oder Idealfall in der internationalen Orchesterlandschaft angesehen werden, und es ist ein Unikum. Als Abbado von den Berliner Philharmonikern Abschied nahm, rief er in ganz Europa Freunde·für ein neues Orchester zusammen. Vor drei Jahren trafen sich zum ersten Mal 120 Musikerinnen und Musiker in Luzern zu Symphonie- und Kammermusikkonzerten, seitdem spielen sie in jedem Spätsommer beim Lucerne Festival. Die Konzerte werden auf CD und DVD "festgehalten". Voriges Jahr begann man mit Reisen, gastierte in Rom und bespielt jetzt zehn Tage lang den besten Tokioter Konzertsaal, die Suntory Hall, wo vor zwanzig Jahren Celibidache und die Münchner Philharmoniker Bruckners Fünfte zelebrierten.
Ein europäisches Ensemble
Einzigartig beim Lucerne Festival Orchestra ist bereits die Anreise der Musiker nach Tokio, die in mehr als Dutzend verschiedenen Abteilungen erfolgt. Aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, Italien, Frankreich, Spanien, Holland und Belgien kommen sie, die in zwei große Gruppen eingeteilt sind: rund 50 Tutti-Spieler des jungen Mahler Chamber Orchestra und Solisten - darunter Konzertmeister, Stimmführer internationaler Orchester, namhafte Musiker, die in keinem Orchester spielen. Etwa die Klarinettistin Sabine Meyer und ihr Bläserensemble, Mitglieder des Hagen- und Alban-Berg-Quartetts, der Cellist Mario Brunello, der Trompeter Reinhold Friedrich und sein Kreis. Sie alle sind überzeugt von der globalen Mobilität der musikalischen Klassik, betrachten Tokio als einen ihrer regulären Wirkungsorte, das Musizieren dort als starken Motivationsschub. Alle sind beeindruckt von der Einfühlungskraft des japanischen Publikums. Und alle empfinden es als ein Privileg, für "Claudio" im Orchester anzutreten. Sabine Meyer, die Starklarinettistin, die beim BR-Symphonieorchester in München anfing, bevor sie die Berliner Philharmoniker und Karajan polarisierte, meint entschieden: "Wo kann ich sonst Mahlers sechste oder Bruckners vierte Symphonie spielen?"
Worin besteht Claudio Abbados Charisma, mit dem er junge und auch erfahrenen Musiker traumwandlerisch "erreicht"? Der 36-jährige italienische Geiger Antonello Manacorda, der mit Abbado 1994 das Mahler Chamber Orchestra gründete und später beim Dirigentenguru Panula in Helsinki sich für die Kapellmeisterlaufbahn rüstete, erklärt sich Abbados Wirkung so: "Claudio hilft den Musikern, gut zu spielen, er stört sie nicht." Entscheidend sei folgendes: "Als Dirigent muss man ein Musiker sein, denn die Autorität ist in der Musik selbst. Abbado will nicht führen, er will es gemeinsam erleben." Der Dirigent selbst sagt in diesen Tagen einmal bei der Probe zu seinen Musikern schlicht und lapidar: "Ihr müsst hören!"
Was können europäische Musiker von den Japanern lernen? Jedenfalls den tiefen Respekt vor der Musik. Respekt heißt auch Abbados und Pollinis Credo: Unerbittlich ernst, ja kämpferisch wehren sie jeden Versuch ab, die Musik, die ihr Leben ist, als Unterhaltung zu verkaufen, als "Spaßfaktor" auch nur zu denken.
Das alte Luzerner Musikfestival will global präsent sein, Intendant Michael Häfliger stellt in Tokio diskret ein paar Weichen. Es geht bei dem Gastspiel leider nicht um die neue Musik, wichtig in Luzern, sondern hier sicherheitshalber um die symphonischen Schlachtrösser - immerhin auch stark um die Kammermusik: Fünf attraktive Konzerte in der großen Suntory Hall sind fast ausverkauft.
Nach Mahlers sechster Symphonie, dem Finale als Katastrophe eines Helden, vergehen 50 unendlich lange Sekunden des Schweigens, der Erschütterung, bis Beifall zögernd einsetzt. Man möchte den Japaner die Konzentrationsfähigkeit kaum glauben, zu hektisch, schrill wirkt die Hauptstadt, und grell ist hier auch die Werbung für klassische Musik.
Im Orchester befindet sich auch der 75 Jahre alte ehemalige Berliner Philharmoniker Hanns-Joachim Westphal, der blutjung noch drei Jahre unter Wilhelm ·Furtwängler gespielt hat und jetzt auf Wunsch Abbados vorn bei den ersten Geigen sitzt. Die Konzerte mit dem Luzerner Orchester sind für ihn das reinste Vergnügen: "Es ist hier immer Sonntag, nie Alltag. Der Alltag könnte so nicht bleiben".WOLFGANG SCHREIBER
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.252, Donnerstag, den 02. November 2006 , Seite 17
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