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Klassik Mehr Freiheit für den Sympathieträger
Das Glück der späten Jahre
Claudio Abbado lässt sich in Tokio mit dem Lucerne Festival Orchestra feiern wie noch nie.
Von Kai Luehrs-Kaiser
In Japan ticken Klassik-Uhren anders. Hier gibt es immer noch "The Three Great Tenors" - es handelt sich um Vincenzo La Scola, Giuseppe Sabbatini und Neil Shicoff. Man freut sich auf Gastspiele von Kiri Te Kanawa, Kathleen Battle und Jörg Demus - Klassik-Künstler, die der Welt längst abhanden gekommen schienen. Mit ihnen wird in Tokio noch gutes Geld verdient. Eintrittskarten sind teuer.
Umso schwerer wiegt es, wenn der renommierteste Konzertsaal des Landes, die Suntory Hall, in ein Orchester investiert. Vor genau 20 Jahren wurde der Saal mit Schützenhilfe Herbert von Karajans triumphal eröffnet. Jetzt schaufelte man für Claudio Abbados Lucerne Festival Orchestra eine ganze Woche frei. Die Prestigetruppe aus Freunden und Meistersolisten - es sitzen Mario Brunello, Sabine Meyer und Reinhold Friedrich unter Freunden - brachte ganze 14 Konzerte (plus Pollini-Recital und Meisterklassen) an den Pazifik. Dergleichen hat es, sagt Veranstalter Masa Kajimoto, nicht einmal für die Wiener Philharmoniker gegeben.
Claudio Abbado dirigiert gesundet, kraftvoll und flexibel, als befinde er sich auf dem Höhepunkt einer Wellness-Kur. "Klarer, analytischer und präziser denn je" findet ihn Kolja Blacher, der Abbado schon als Konzertmeister der Berliner Philharmoniker kannte. "Man würde ihm alles geben", schwärmt Sabine Meyer. Sie sieht es als "Kammermusik im größeren Rahmen". Mehrere Streichquartette sind mit dabei. Valentin Erben (Alban Berg Quartett) empfand es erst als "Stress", dann als "Sonntagsvergnügen". Clemens Hagen, Mitbegründer des Hagen-Quartetts, sieht es als luxuriöse Weise, Orchestererfahrungen nachzuholen - unter Idealbedingungen.
In Tokio ereignen sich in Mahlers 6. Sinfonie denn auch Wunder an Detailausgrabung und Spontaneität. Auf den Proben wird nichts
einstudiert, nur experimentiert. Mahlers "Tragische" sprüht über weite Strecken vor Erfindungsreichtum - und vor Glück. Nach dem letzten Ton herrscht im Saal minutenlang tiefste Stille - als sei der Saal leer.
Das Geheimnis des späten Abbado offenbart sich als Ergebnis
rangelfreier Vertrautheit. 1978 habe er erstmalig mit Abbado
konzertiert, sagt Alois Posch, sonst Kontrabass-Stimmführer bei denWiener Philharmonikern. Die Proben in Salzburg seien merkwürdig unentschieden, ja verwirrend gewesen. "Daraufhin haben wir im Konzert gespielt wie um unser Leben", erzählt er. Der legendär schlechte Prober, als der Abbado seit Jahrzehnten gilt, wandelt sich in Asien zum grandios aufgelegten Motivator, der mit jedem Konzert freier, frischer, im Grunde jünger wirkt als in den vergangenen Jahren. "Es ist, als probiere Abbado nach seiner Krankheit noch einmal alles von vorne aus", so Posch. Mit ihrem "Oberindianer", so auch Star-Trompeter Reinhold Friedrich, probe man zehn Möglichkeiten vorher aus - um im Konzert eine elfte zu verwirklichen.
Das geht oft auf, in manchen Kolossalmomenten von Bruckners Vierter aber auch nicht. Die Klanggerölle und Tableaus wirken schubertartig minimiert. Ein homogenes Großbild kommt vor Detailreichtum kaum zustande. Abbados Grundidee, Kammermusik ins Große umzumünzen, stößt hier an Grenzen. Mahler und Bruckner sind nun mal keine Kammermusik.
Dennoch gelingen Maurizio Pollini, dessen rubatoabstinentes Spiel in den vergangenen Jahren zum Logifizieren neigte, hier Brahms' Klavierquintett und - mehr noch - das 2. Klavierkonzert durch flirrenden Ernst und pochende Entspanntheit. Zahllose junge Leute bezeugen dabei, dass die Zukunft der Klassik womöglich in Südostasien liegt. Hier lauern jugendliche Autogrammjäger noch spät nachts
Klassik-Künstlern vor dem Hotel auf. Im Konzertsaal herrscht heilige Stille. Und das nicht nur, weil wegen der langen Arbeitszeiten einige der Besucher schlafen.
Abbado, dessen machtfreier Musikdiskurs sein ideales Instrument gefunden zu haben scheint, ist in Japan mehr denn je Utopist der späten Sorte. Einen "unrealistischen Idealisten" nennt ihn Klarinettist Reiner Wehle. Verallgemeinerbar seien die Ergebnisse dieses Luxusexperiments nicht.
Die schwierigste Frage bleibt, ob dem Lucerne Festival Orchestra, wenn Abbado es nicht mehr leiten kann, eine Zukunft beschieden ist. Benannt ist es nach einem Orchesterfest. Seine "Seele" aber, so sagen alle, bestünde aus Claudio Abbado. "Mehr Freiheit!", so lautet dessen Probendevise. Das gilt auch für den Dirigenten selbst. Das Lucerne Festival hat Abbado zum vielleicht glücklichsten Dirigenten der Welt gemacht. Die Idee war ein Orchester, in dem niemand gegen ihn ist. So sagt es Sabine Meyer schlicht.
Abbado, der in Tokio Kusshände ins Publikum wirft und sich feiern lässt wie kaum je zuvor, hat die Klassikwelt um ein Attribut bereichert, das früheren Dirigenten kaum zugetraut wurde: Sympathie.
Er wird in die Geschichte als Dirigent eingehen, der nicht Autorität wie Karajan oder Miesepetrigkeit wie Böhm verströmte. Sondern als einer, den man mochte. Das ist sein Verdienst. Das ist das Glück seiner späten Jahre. Wenn auch fern von Berlin.
Artikel erschienen am 13.11.2006
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